Christian Schüle
Lob der Ambivalenz im Deutschlandfunk 26.02.2019
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Eine - oder vielleicht sogar die wichtigste - Voraussetzung für Reisende und darin ein Unterscheidungsmerkmal zum Touristen, der ja mit einem ganzen Set von Erwartungen in den Urlaub fährt, die erfüllt werden müssen udn der so gar nicht offfen sein kann für Neues. Offenheit ist die Wurzel der Neugier nach dem Unbekannten und findet seine Erfüllung im Staunen.
Grenzgänger wandeln zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Vertrauten und dem Fremden, zwischen Angst vor und Freude am Unerwarteten, zwischen Leben und Tod, zwischen Sünde (curiositas) und Tugend (studiositas), das verbindet Erforscher, Entdecker, Abenteurer und Globetrotter.
Eine offene Gesellschaft ist offen für das Andere und nimmt es als bereichernd an 1). Geschlossene Gesellschaften gestatten keine Abweichung, kein Anders-Sein, keine Reisefreiheit. Reisende haben erfahren, dass die Welt draußen nicht so ist, wie die Sesshaften meinen, dass sie sein müsse. Probleme entstehen, wenn eine Gesellschaft eine abweichende Reise-Erfahrung moralisch verurteilt: Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Das führt zu »Diskurshecken« 2). »Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht zu denken« meint Svenja Flaßpöhler im taz-Interview 3).
Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden. Was aber, wenn der Andersdenkende zum Andershandelnden wird und die Freiheit abschaffen will? Wo begrenzen dann die Hecken die Offenheit 4)? Tatsächlich finden heute die größten Kämpfe zwischen Gruppen statt, die entweder viel mehr oder viel weniger Regulierung/Dynamisierung fordern 5).
Die Populisten sind fasziniert vom Chaos, damit sich dann der Stärkere behaupten kann. Die Identitätspolitiker zerlegen die Gesellschaft so lange in immer kleinere und immer homogenere Blasen, bis jeder seine eigene Blase hat. Beide Wege pervertieren die Suche nach dem »Möglichen«, indem sie völlig entgrenzt fragen: Was können Einzelne von der Gesellschaft bekommen? Die Gesellschaft ist aber ein „Wir“ und die Einzelnen sind mit Rechten und Pflichten in sie eingebunden 6).
Rechte zu fordern ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht: Was kann ich zurückgeben? Ein aufgeklärter Mensch geht damit vernünftig um, weil er ein mündiges Mitglied der Gesellschaft ist und autonom zu entscheiden weiß, auch ohne selbstverkrümmtes Anlehnen an -ismen 7). Man darf (?) ja wohl fragen, »ob wir Ungleichheit unter den Menschen nicht als Bedingung für wechselseitiges Lernen und Quelle der Motivation nötig haben« 8)
Jan Freyn
Eckhard Jesse
Andreas Reckwitz
Hans Ulrich Gumbrecht