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wiki:wilde_mann

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wiki:wilde_mann [2021/09/21 03:32] norbertwiki:wilde_mann [2024/03/21 06:07] (aktuell) – [Literatur] norbert
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 ====== Der Wilde Mann ====== ====== Der Wilde Mann ======
-Eine archetypische [[wiki:stereotyp|Figur]], die zwar erschreckt und Furcht auslöst, jedoch nicht feindlich gesinnt ist. Es ist vielmehr die Furcht vor der eigenen Wildheit, die angesprochen wird, weil der Mensch ursprünglich Teil der [[wiki:wildnis|Wildnis]] war. Die älteste schriftlich überlieferte Erzählung der Menschheit berichtet von ''Enkidu'', einem behaarten Wesen, das mit den Tieren lebte und erst durch den Beischlaf mit einer Frau zum Menschen, dadurch jedoch den Tieren fremd wurde. Übereinstimmend in den europäischen Sprachen als engl. woodwose, span. hombre salvaje o ser de los bosques, franz. L'homme sauvage, ital. L'uomo selvatico , port. Homem selvagem, russ. Дикий человек, bask. Gizon Basatia. 
  
-Der Wilde Mann ist also ein [[wiki:aussenseiter|Außenseiter]] außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, außerhalb des befriedeten Bezirkes. Er ist jedoch kein [[wiki:einzelne|Einzelner]] und kein [[wiki:outlaw|Outlaw]], denn dies setzt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft voraus, aus der man sich lösen kann wie ein Jäger, Sammler oder [[wiki:waldlaeufer|Waldläufer]] oder verstoßen zum [[wiki:heimatlos|Heimatlosen]] und [[wiki:vargr|vargr]] wirdder wie ein Tier lebtEr ist auch kein Unhold wie der [[wiki:wilde_jaeger|Wilde Jäger]] und kein Tierwesen wie der [[wiki:man_of_the_bush|man-of-the-bush]], auch kein Zwischenwesen wie ein Satyr, also ohne Hörner oder Bocksfüße.+Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft in der [[wiki:wildnis|Wildnis]] [[wiki:waldeinsamkeit|Wald]], [[wiki:bush|Busch]] oder [[wiki:wildes_feld|Feld]] - leben, sind nicht geheuer und werden in der Vorstellung zum suspekten [[wiki:Waldbewohner|Waldbewohner]], leicht zum Ungeheuer, zum Wilden Mann, den es seit dem Hochmittelalter in vielen Spachen gibt: engl//woodwose//, frz. //homme sauvage//, it. //uomo selvatico//, span. //hombre salvaje// o ser de los bosques, port. //Homem selvagem//, bask. //Gizon Basatia//, slavisch //Leshy//, //lešij//, russ. леший oder Дикий человек usw. ((siehe die Namensvielfalt im nördlichen Italien bei [[https://it.wikipedia.org/wiki/Uomo_selvatico#NomiWikipedia]] )). Unveränderlich durch alle Zeiten bleibt der Wilde Mann ein stark behaarter [[wiki:einzelne|Einzelner]].
  
-Gemeinsam ist diesen Figuren jedoch, dass sie die gleiche Urangst auslösen. Asketen, Einsiedler und [[wiki:wandermoench|Wandermönche]] gehen daher den umgekehrten Weg und konfrontieren sich aus spirituellen Gründen mit dieser Angst in der [[wiki:waldeinsamkeit|Waldeinsamkeit]].+==== Der Wilde Mann als mythische Figur in der Antike ====
  
-Die Idee des Wilden Mannes erscheint in mancherlei Formen: +Die Figur des Wilden Mannes ist weit älter als der Begriff und findet seine Wurzeln in [[wiki:reisegoetter|Göttern]], Vegetationsgeistern, Halbgöttern, Heroen. Als psychologischer **Archetyp** steht er für den Menschender sich aus der Natur entfernt hat, indem er den Apfel der Erkenntnis aßDennoch bleibt er seiner Abstammung nach ein [[wiki:tiere|Tier]]Diese archetypische [[wiki:stereotyp|Figur]] ist erschreckend und furchteinflößend, jedoch nicht feindlich gesinnt. Es ist vielmehr die Furcht vor der eigenen Wildheit, die angesprochen wird, weil der Mensch ursprünglich Teil der [[wiki:wildnis|Wildnis]] war.  
-  Der wilde Mann von Teneriffa + 
-    ''ZapperiRoberto''\\ //Der wilde Mann von Teneriffa//.\\ Die wundersame Geschichte des ''Pedro Gonzalez'' und seiner Kinder.\\ München 2004C.H. Beck. +Dort wird er durch seine Nähe zur Natur, durch Kraft und Stärke auch zur beschützenden Figur, seine Attribute sind Bart und Haare, Keule und einfachste Bekleidung (z.B. Blätter, Fell): 
-    * Der Eisenhans (vorher: Der Wilde Mann), Grimms Märchen Nr. 136 +  * Der von Haaren bedeckte ''Esau'' steht als Jäger seinem kahlen und kultivierten Bruder ''Jakob'' gegenüber ([[https://www.bibelwissenschaft.de/bibelstelle/Gen%2025-36|Gen 25,29-34; 27,31]])Starke Behaarung steht einerseits für Wildheit und andererseits für Dominanz über wilde Tiere ((''Mathias Winkler''//Haare/Haartracht// in: [[https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/20185/|Bibellexikon]])). 
-  * »Itinerant craftsmen«, die Eisen verhütten, Holz schlagen, Holzkohle herstellen müssen schon aufgrund solcher Tätigkeiten außerhalb von Siedlungen leben und erscheinen als »[[wiki:wilde_mann|Wilder Mann]]« in der [[wiki:wildnis|Wildnis]] ((''Callmer, Johan''\\ //North-European trading centres and the Early Medieval craftsman.//\\ Craftsmen at Åhusnorth-eastern ScaniaSweden, caAD 750–850+.\\ InCentral Places in the Migration and the Merovingian Periodspapers from the 52nd Sachsensymposium, Lund, August 2001Acta archaeologica Lundensia 39. Uppåkrastudier 6. B. Hårdh, L. Larsson (Hg.) Stockholm 2002: Almqvist & Wiskell, S125–157\\ ''Leif Einarson''\\ //Which came first – the smith or the shaman?//\\ Vǫlundarkviđa, craftspeople and central place complexes.\\ in: NeyAgneta2009. Á austrvega : Saga and East Scandinavia; preprint papers of the 14th International Saga ConferenceUppsala9th-15th August 2009. 1 1. Gävle: Gävle University Press, S. 221-228))+  * Der ''Enkidu'' des [[https://www.lyrik.ch/lyrik/spur1/gilgame/gilgam1.htm|Gilgamesch-Epos]] (2./3. Jahrtausend BC in Mesopotamien) war völlig behaart und nur äußerlich menschenähnlich, lebte jedoch mit den [[wiki:tiere|Tieren]]bis ihn die Tempeldienerin ''Schamchat'' sieben Tage und Nächte lang verführteDabei erwarb er EinsichtVernunft und Spracheso dass ihn fortan die Tiere mieden.  
-  * [[wiki:voelva#Völundrder weise Wanderschmied|Wanderschmiede]] nehmen unter den »Itinerant craftsmen« eine besondere Stellung ein; dazu gehört vielleicht auch das Märchen vom Eisenhans. +  * Als Wilder Mann mit [[wiki:stab|Keule]] werden dargestellt:\\ die indischen Lokapaladie hethitischen [[wiki:reisegoetter|Berggötter]], der phönizische Melkarth, der assyrische Baalder vedische Pushan, der griechische Herakles
-  * Die Oberharzer Bergbaustadt //Wildemann// führt ihre Gründung auf einen Wilden Mann zurück, der mit einer Wilden Frau in der Nähe eines Silbervorkommens lebtedas er erschlossen hatte+  * Der //Vajrapāṇi// `der einen [[wiki:vajra|vajra]] in der Hand hält´ beschützt Buddha und erscheint auch als alter, bärtiger, wilder Mann. 
-  * Der //Vajrapāṇi// `der einen vajra in der Hand hält´ beschützt Buddha  und wird als junger Mann, aber auch als alter, bärtiger, wilder Mann dargestellt+  * Der lateinische //Orcus// als Gott der Unterwelt erscheint in etruskischen Gräbern als haarigerbärtiger Riesewurde italienisch zu orco, französisch zu ogre und deutsch zu oger - aber immer mit derselben figurativen Bedeutung. 
-  * Die indischen  Lokapala, die hethitischen Berggötter, der phönizische MelkarthBaalder griechische Herakles werden dargestellt als Wilder Mann mit [[wiki:stab|Keule]]. +  * In der christlichen Überlieferung erinnern ''[[wiki:christophorus|Christophorus]]'' mit dem Wurzelstock und Knecht ''Ruprecht'' mit der Rute an den Wilden Mann. Christophorus war ursprünglich hundeköpfig und wurde wegen seiner Sprachbegabung mit herausgestreckter Zunge dargestellt.  
-  * Der Edle Wilde +    ''Groschner, Gabriele''\\ //Seelenbegleiter und Jenseitsreisende//.\\ S. 168-191 in: Habersatter, Thomas ; Ducke, Astrid ; Groschner, Gabriele (Hrsgg.): Einmal Unterwelt und zurück. Die Erfindung des Jenseits; [[wiki:ausstellungsliste_mission_glaube_kirche|Ausstellung]] Residenzgalerie Salzburg, 21.7.–04.11.2012. Salzburg 2012. Christophorus als Kynokephale und Wilder MannFußnote 83.
-  * Christophorus, Knecht Ruprecht+
     * ''Siefker, Phyllis''\\ //Santa Claus, last of the wild men//\\ The origins and evolution of Saint Nicholas, spanning 50.000 years.\\ Jefferson, N.C. 1997: McFarland.     * ''Siefker, Phyllis''\\ //Santa Claus, last of the wild men//\\ The origins and evolution of Saint Nicholas, spanning 50.000 years.\\ Jefferson, N.C. 1997: McFarland.
  
 +Den Zwischenraum außerhalb des befriedeten Raumes teilte der Wilde Mann mit mythischen Waldgeistern, die im Unterschied zum Wilden Mann jedoch Mischwesen sind wie der [[wiki:man_of_the_bush|man-of-the-bush]], Zwischenwesen wie ein Satyr mit Hörnern oder Bocksfüßen, über- oder unterirdisch hausend.
 +    * ''Hans Findeisen'' //Das [[wiki:tiere|Tier]] als Gott, Dämon und Ahne//, Kosmos Stuttgart 1956.
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 +==== Der Wilde Mann als Friedloser und Ausgeworfener im Mittelalter ====
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 +Als **Waldgänger**, Warger oder **[[wiki:vargr|Vargr]]** ist er ein Friedloser oder rumelant (homo qui per silvas vadit) ((Grimm: Rechtsaltertümer 2. Ausg. S. 733)), weil er nicht friedlich in und mit seiner Gemeinschaft leben kann, daraus verstoßen wurde und wieder zum Tier wird. Daraus begründet sich eine moralische Norm und ein Rechtsgrundsatz, der den Waldgänger als ehrlos, rechtlos und [[wiki:heimatlos|heimatlos]] kennzeichnet, einen [[wiki:outlaw|Outlaw]] eben. Acht und Bann waren //de jure// keine Todesstrafe, liefen jedoch //de facto// darauf hinaus. Über viele Jahrhunderte bedeutete in Germanien zu siedeln mit der Großfamilie in einem einräumigen Langhaus mit Gesinde und Vieh zu leben. Wer dort ausgeschlossen wurde, fand keine neue Heimat in einer Welt, die kaum größere Dörfer und gar keine Städte kannte. Es blieb nur der Weg in den Wald. ((Oliver Berggötz: [[www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-128356|Rezension]] in: H-Soz-Kult 08.08.2022 zu: Steuer, Heiko: "Germanen" aus Sicht der Archäologie. Neue Thesen zu einem alten Thema. Berlin 2021)). Ursprünglich müssen diese Geächteten wohl Wolfsfelle getragen haben ((Wolf hoc est expulsus de eodem pagus; vargus esto, vargus habeatur; Wolfshaupt: quod anglice wulfes heved dicitur; ex tunc enim (uthlagati) gerunt caput lupinum ...)). Erst 1030 wurde ein Gesetz erlassen, das Waldgängern nach 20 Jahren in der [[wiki:wildnis|Wildnis]] die Rückkehr in die Gemeinschaft erlaubte. ((Grimm: Rechtsaltertümer. Leipzig 1922, Bd. 2, 335))
 +  * ''Erler, A.''\\ //Friedlosigkeit und Werwolfglaube//.\\ Paideuma 1.7 (1940) 303-317. [[https://www.jstor.org/stable/40341066|Online]] 
 +
 +Strafrechtlich erwuchsen die Friedlosen aus dem germanischen Rechtsverständnis des Mittelalters. Dieses wurde bis ins [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 12. Jahrhundert|13. Jahrhundert]] zunehmend institutionalisiert durch Kirche (Bann) und Herrscher (Acht). 
 +  * Hut, Gürtel, Schuhe sowie Waffen galten auch als Insignien mit Hinweis auf Rechte des Trägers. Die Strafen von Bann und Acht sahen daher vor, dass der Bestrafte diese Dinge ablegen musste.
 +  * Insignien der Ehrlosigkeit und Heimatlosigkeit waren stattdessen Stirnband, Kleidungsstücke aus Naturmaterialien wie Moos oder Fell, eine rohe Keule (Ast mit Rinde) sowie starke Körperbehaarung.
 +    * ''Siuts, Hinrich''\\ //Bann und Acht und ihre Grundlagen im Totenglauben.//\\ (= Schriften zur Volksforschung, 1) XIII, 149  S. Bibliografie S. 145-149. Berlin 1959: de Gruyter.
 +    * ''Scheil, Elfriede''\\ //Der Sinnzusammenhang zwischen wildem Mann und Totenschädel in Albrecht Dürers Paar mit Totenkopfwappen von 1503//.\\ Zeitschrift für Kunstgeschichte 73.3 (2010) 433–44. [[https://www.jstor.org/stable/20749480|Online]]
 +    * ''Albrecht Dürer'' (1471-1528)\\ //Wappen mit dem Totenkopf//\\ Kupferstich 1503 [[https://nds.museum-digital.de/object/13865|online]]
 +    * Der **[[wiki:wilde_jaeger|Wilde Jäger]]** auf seiner [[wiki:road_movie#Die unendliche Fahrt|Unendlichen Fahrt]] ist zwar eine mythische Figur, dient jedoch als Paradigma für etwas, das dem Menschen widerfahren kann.
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 +==== Der Wilde Mann als Einzelner im Mittelalter ====
 +Die wohl älteste Darstellungen eines Wilden Mannes finden sich im französischen Raum um das Jahr [[wiki:reisegenerationen#9. und 10. Jahrhundert|1.000]] ((''John Tchalenko''\\ //Earliest wild-man sculptures in France.//\\ Journal Medieval Hist. 16 (1990) 217–234 [[https://doi.org/10.1016/0304-4181(90)90003-J|DOI]] )); die Wilde Frau (lamia, holzmoia vel wildaz wip) wird in den Mondseer Fragmenten (des [[wiki:reisegenerationen#9. und 10. Jahrhundert|10. Jahrhunderts]] genannt. In der zweiten Hälfte des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 12. Jahrhundert|12. Jahrhunderts]] bezeichnet sich ein geistlicher (!) Dichter selbst als Wilden Mann ((''Larissa Schuler-Lang''\\ //Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. „Parzival“, „Busant“ und „Wolfdietrich D“.//\\ (=Literatur, Theorie, Geschichte, 7) Berlin 2014: De Gruyter. [[https://doi.org/10.1524/9783110344752|DOI]] S. 49-50)). Bis zum [[wiki:reisegenerationen#14. Jahrhundert|14. Jahrhundert]] sind aus unheimlichen Kreaturen freundlichere Wesen geworden und erscheinen auf Spielkarten, Wandteppichen, Plastiken, Münzen und Wappen. Die Wilden Leute lassen sich auch deuten als Ausdruck einer Sozialkritik am städtischen Leben und Vision neuer Freiheiten ((''Luciana Villas Bôas''\\ //Os selvagens de Nuremberg e o seu lamento pela imprensa de 1545.// Letras, Santa Maria, 24.49 (2014) 131-151. [[https://doi.org/10.5902/2176148516596|DOI]]. Zum Holzschnitt von ''Hans Schäufelein'' und dem zugehörigen Gedicht von ''Hans Sachs'')).
 +  * Der **Asket** ist ein [[wiki:einzelne|Einzelner]] in der [[wiki:waldeinsamkeit|Waldeinsamkeit]], den spirituelle Beweggründe in die [[wiki:wildnis|Wildnis]] treiben, weil die Heimatlosigkeit eine Voraussetzung seines Strebens ist. Asketen, Einsiedler und [[wiki:wandermoench|Wandermönche]] konfrontieren sich aus spirituellen Gründen mit dieser urwüchsigen [[wiki:angst|Angst]].
 +  * Der **[[wiki:waldlaeufer|Waldläufer]]** ist ein [[wiki:einzelne|Einzelner]], der in der Wildnis die Einsamkeit und die Nähe zur Natur sucht und die Menschen meidet.
 +  * ''Zapperi, Roberto''\\ //Der wilde Mann von Teneriffa//.\\ Die wundersame Geschichte des ''Pedro Gonzalez'' und seiner Kinder.\\ München 2004: C.H. Beck.\\ In der ersten Hälfte des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 16. Jahrhundert|16. Jahrhunderts]] »Pedro Gonzalez«, ein kanarischer Guanche, an den französischen Hof König ''Heinrichs II.'' Durch einen genetischen Defekt (Hypertrichose) ist er am gesameten Körper blond behaart und vererbt dies auch seinen Nachkommen, die später in einem Dorf am See von Bolsena in Italien leben. Der Autor hat diese Geschichte bis ins [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 17. Jahrhundert|17. Jahrhundert]] recherchiert und stellt sie dar als Kulturgeschichte entlang der [[wiki:grenze|Grenze]] zur Wildnis, als Suche nach der Abgrenzung zwischen Mensch und [[wiki:tiere|Tier]].
 +  * ''M A Katritzky''\\ //A wonderfull monster borne in Germany’: hairy girls in medieval and early modern German book, court and performance culture.//\\ German Life and Letters, 67.4 (2014) 467–480.
 +
 +Der Wilde Mann und die Wilde Frau wurden von der mythischen Figur zum [[wiki:stereotyp|Stereotyp]] von [[wiki:aussenseiter|Außenseitern]], die ein Leben [[wiki:einzelne|Einzelner]] außerhalb der Gemeinschaft führten, also auch allgemeingültige Normen (Sitten, Gebräuche, Regeln) neu definierten: »homo agrestis corpore magnus et pilosus ut porcus« ((''Zingerle von Summersberg, Oswald''\\ //Die Quellen zum "Alexander" des Rudolf von Ems.//\\ Im Anhange: Die "Historia de preliis". Breslau 1885: W. Koebner. Nachdruck Hildesheim 1977: Olms. S. 237, 104.15)), von bäurischer Gestalt und behaart wie ein Schwein. Gegensätze zeigten sich in Natur/Kultur, Christentum/Heiden, befriedeter Bereich/[[wiki:wildnis|Wildnis]], Vertrautes/[[wiki:fremdes|Fremdes]], Heimat/[[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs-sein]], Wildes/Zahmes, Trieb/Askese, bekleidet/nackt (→ [[wiki:der_fahrende_haendler|Fahrende Händler]]), grob/fein usw.\\ 
 +Neu war jedoch, das sich die Bewertung dieser Gegensätze veränderte, dass ein Leben außerhalb nicht mehr nur ein Leben in Sünde und Verdammnis war, sondern als Lebensform mit neuen Möglichkeiten wahrgenommen wurde ((''Yamamoto, Dorothy''\\ //The Boundaries of the Human in Medieval English Literature.//\\ Oxford 2000. S. 150-151.\\ NN: //The Wild Men of the Pyrenees//. Perennialpyrenees January 16, 2018. [[https://perennialpyrenees.com/2018/01/16/article-21-the-wild-men-of-the-pyrenees/|Online]])). 
 +
 +Der deutsche Prediger ''Johann Geiler von Kaysersberg'' (1445–1510) unterschied zwar fünf im Wald wohnende Menschentypen ((''Geiler von Kaysersberg, Johannes''\\ //Die Emeis//\\ [ dis ist das Buch von der Omeissen, unnd auch Her der Künnig ich diente gern und sagen von Eigentschafft der Omeissen und gibt Underweisung von den Unholden und Hexen und von Gespenst der Geist unnd von dem wütenden Heer wunderbarlich und nützlich zuwissen,... ]\\ S. XL Straßburg : Grüninger, 1516 [[https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb11204769?page=80,81|Online]])), jedoch wurden diese von ihm nicht als richtige Menschen angesehen, weil sie sich aus unterschiedlichen Gründen aus der Gemeinschaft gelöst hatten:
 +    * **Solitari**\\ penitent saints, büßende Heilige; Eremiten mit der Möglichkeit und Fähigkeit, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
 +    * **Sachanni**\\ rauhe Leute
 +    * **Hyspani**\\ Bewohner der iberischen Halbinsel ((1494 teilt Papst ''Alexander VI.'' im Vertrag von Tordesillas  die Welt zwischen Spanien und Portugal auf.))
 +    * **Pigineni**\\ (auch: Prechami in: //Herzog Ernst//) Kleinwüchsige behaarte wilde Wesen zwischen Mensch und Tier (Albertus Magnus), jedoch von letzteren durch ihre Vernunft unterschieden.
 +    * **Diaboli **\\ Gottlose Wesen, sittenlos und lasterhaft wie Heiden und Ketzer, die das Böse repräsentieren.
 +    * ''Friedrich, Udo''\\ //Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter.//\\ Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. (Historische Semantik 5), s. auch 106
 +    * ''White, Hayden''\\ //Forms of Wildness. The Archaeology of an Idea.//\\ S. 3–38 in: Edward Dudley & Maximillian Novak: The Wild Man Within: An image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism. Pittsburgh 1972: University of Pittsburgh Press.
 +
 +Dass wilde Leute aus dem Wald in die Städte kamen und dort blieben ist sicher, denn sprachübergreifend entstanden ab dem [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 12. Jahrhundert|13. Jahrhundert]] dementsprechende Bei- und Familiennanmen, die belegen, dass es ein Vorstellungsmuster (([[https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=W20922|wildemann]], Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, abgerufen am 18.08.2022 )) für diese Namenzuweisung gab:
 +  * //Wild(e,er)mann// im deutschsprachigen Raum
 +  * //Sauvage// in Frankreich
 +  * //Selvaggi// u.ä., //Sevatici// (Emilia, Veneto)  "chi viveva e lavoraza nei boschi", //Silvani// (que vive nei boschi), //Silvéstri// u.ä. (delle selve, dei boschi, incolto, rozzo) ((Alinei, Mario: Dizionario etimologico-semantico dei cognomi italiani. Varazze (Savona) 2017: PM.))
 +  * //Woodwose// (Woodiwiss, Wooddisse, Widdiwiss) in England, zuerst: 1251 Robert de Wudewuse ((Reaney, Percy Hide, Richard Middlewood Wilson. A dictionary of British surnames. London 1979: Routledge & Paul.))
 +
 +=== Zusammenstellungen von Bild- und Textquellen ===
 +
 +  * [[https://www.rdklabor.de/wiki/Wilde_Leute|RDK Labor]], dort auch 
 +    * [[https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89326|Fellkleid]]
 +  * [[http://www.symbolforschung.ch/wilde_leute.html|Symbolforschung]]
 +  * → Ausstellungen zur [[wiki:ausstellungsliste_wildnis|Wildnis]]
 +  * ''L. L. Möller''\\ //Die wilden Leute in der deutschen Graphik des ausgehenden Mittelalters.//\\ Philobiblon 8, 1964, 260–272.
 +  * ''Tobias Gärtner''\\ //Ein ungewöhnlicher Drachengriffel von der Burg Anhalt im Harz.//\\ Germania 98 (2020) 119–155. [[https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/germania/article/view/85203|Online]] \\ Die einzigartige Figur zeigt einen männlichen Reiter mit starker Körperbehaarung, der verkehrt herum auf einem (Löwen? Wolf? Hund?) sitzt. Für die Deutung als Wilder Mann werden umfassende Bild- und Textbelege aus der höfischen Literatur des 12./13. Jahrhunderts herangezogen und diskutiert, zudem auch zahlreiche Beispiele der figürlichen Bauplastik, Buchillustrationen und Bildteppiche.
 +  * ''Wilckens, Leonie von''\\ //Das Mittelalter und die "Wilden Leute"//.\\ Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst / Hrsg. V. D. Staatlichen Kunstsammlungen U. D. Zentralinstitut Für Kunstgeschichte in München. 3. F. XLV (1995) 65-82. Mit einem Hinweis auf die Darstellung des [[wiki:einzelne|Niemand]] als Wilden Mann.
 +  * ''Dürer, Albrecht''\\ Wappen des Johann [[http://www.zeno.org/nid/2000400177X|Tscherte]] [= tschechisch `wilder Mann´].\\ Holzschnitt um 1521
 +
 +==== Edle Wilde und Einfaches Leben ====
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 +Parallel dazu entsteht **[[wiki:edler_wilder|der Edle Wilde]]** als eine Figur des [[wiki:entdeckungsgeschichte|Entdeckungszeitalters]] ab dem [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 15. Jahrhundert|15. Jahrhundert]], die zunächst dazu diente über den Blick von außen [[wiki:utopie|Gesellschaftsutopien]] zu formulieren, im [[wiki:reisegenerationen#18. Jahrhundert|18. Jahrhunderts]] dann romantisierend das Rousseausche //Zurück zur Natur// verklärend und im Deutschen als [[wiki:waldeinsamkeit|Waldeinsamkeit]] verklärend. Im Englischen war der //sauvage// `Wilder´ ursprünglich synonym zu //Wilder Mann// und wildem [[wiki:tiere|Tier]] und wurde erst im sentimentalen [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 17. Jahrhundert|17. Jahrhundert]] zum //nature's gentleman//.
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 +Die zeitgenössische Fortsetzung zeigt sich in Lebensformen wie dem Traum vom [[wiki:einfach_leben|einfachen Leben]], [[wiki:frugalismus|Frugalismus]], [[wiki:autarkie|Autarkie]] auf dem Land.
 ==== Literatur ==== ==== Literatur ====
 +
   * ''Bartra, Roger''\\ //Wild men in the looking glass//\\ The mythic origins of European otherness.\\ Ann Arbor 1994: University of Michigan Press.   * ''Bartra, Roger''\\ //Wild men in the looking glass//\\ The mythic origins of European otherness.\\ Ann Arbor 1994: University of Michigan Press.
 +  * ''Bernheimer, Richard''\\ //Wild Men in the Middle Ages.//\\ A study in art, sentiment and demonology.\\ Cambridge 1952 : Harvard University Press [[https://doi.org/10.4159/harvard.9780674734234|DOI]]
 +  * ''Borchers, Carl''\\ //Wilder Mann, Heckenmänner, Streckkatzenziehen//.\\ Eine Entdeckung uralten Brauchtums der Reichsbauernstadt in einem Schnitzfeld des Ratsherrnzimmers zu Goslar.\\ 8 S.,  [Goslar] 1935: [Geschichts- und Heimatschutzverein Goslar].
 +  * ''Dieckhoff, Reiner''\\ //Der "Wilde Mann" im Schnütgen-Museum//.\\ Bulletin. Im Auftr. des Generaldirektors der Museen der Stadt Köln 1978
 +  * ''Dudley, E.'','' Novak, M.E.'' (Hg.)\\ //The Wild Man Within: An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism.//\\ XI, 333 S. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1972.
   * ''Fréger, Charles''\\ //Wilder Mann ou La figure du sauvage//.\\ Londres : Thames & Hudson, 2016   * ''Fréger, Charles''\\ //Wilder Mann ou La figure du sauvage//.\\ Londres : Thames & Hudson, 2016
 +  * ''Janine Gunzinam''\\ //Wilde Leute in der mittelhochdeutschen Literatur//.\\ Diplomarbeit Mag. Phil. Bei Christa Tuczay  106 S. Wien 2019 DOI: 10.25365/thesis.56934
 +  * ''Giese, Wilhelm''\\ //Zum „wilden Mann" in Frankreich.//\\ Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 56.7-8 (1932) 491–97. [[http://www.jstor.org/stable/40615330|Online]].
 +  * ''Graßmann, Peter''\\ //Der Wilde Mann vom Germanswald//.\\ Villingen im Wandel der Zeit, 41 (2018) 72–74
 +  * ''Husband, Timothy''; ''Gloria Gilmore-House''\\ //The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism.//\\ XI, 220 S. New York: The Metropolitan Museum of Art 1980. [[https://libmma.contentdm.oclc.org/digital/collection/p15324coll10/id/105863|Online]]
 +  * ''Katritzky, M. A.''\\ //Literary Anthropologies and Pedro González, the Wild Man of Tenerife.//\\ In: Medical Cultures of the Early Modern Spanish Empire 2014, S. 107-128. [[https://doi.org/10.4324/9781315594651|DOI]] [[http://oro.open.ac.uk/41071/1/Medical%20Cultures%20of%20the%20Early%20Modern%20Spanish%20Empire_Chapter%205.pdf|Online]] 
 +  * ''Kofler, Walter'' (Hg.)\\ //Ortnit und Wolfdietrich A.//\\ 192 S. Stuttgart: Hirzel 2009. 
 +  * ''Werner Lynge''\\ //Das Sommer- und Winter-Spiel und die Gestalt des Wilden Mannes//.\\ Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 55 (1952) 14-42.\\ Mit Hinweisen auf den [[wiki:genius_cucullatus|Genius Cucullatus]].
 +  * ''Mobley, Gregory''\\ //The Wild Man in the Bible and the Ancient near East//.\\ Journal of Biblical Literature 116.2 (22/1997) 217. [[https://doi.org/10.2307/3266221|DOI]]
 +  * ''Müller, Ulrich'', ''Werner Wunderlich'' (Hg.)\\ //Dämonen, Monster, Fabelwesen.//\\ 672 S. Konstanz  München 1999/2015: UVK. [[https://lbz.rlp.de/fileadmin/lbz/Inhaltsverzeichnis/7445329.pdf|Inhalt]] u.a. : 
 +    * John L. Flood\\ Die Wilde Jagd
 +    * Christa Habiger-Tuczay\\ Wilde Frau
 +    * Ernst Ralf Hintz (Hayes)\\ Der Wilde Mann Ein Mythos vom Andersartigen.
 +  * ''Mulertt, Werner''\\ //Der „wilde Mann" in Frankreich.//\\ Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 56.1-2 (1932) 69-88.
   * ''Nash, Richard''\\ //Wild enlightenment: the borders of human identity in the eighteenth century.//\\ Charlottesville; X, 216 S. London: University of Virginia Press, 2016   * ''Nash, Richard''\\ //Wild enlightenment: the borders of human identity in the eighteenth century.//\\ Charlottesville; X, 216 S. London: University of Virginia Press, 2016
-  * ''Dieckhoff, Reiner''\\ //Der "Wilde Mann" im Schnütgen-Museum//.\\ Bulletin. Im Auftr. des Generaldirektors der Museen der Stadt Köln 1978 +  * ''ThNolte''\\ //,Wilde und zam‘Wildnis und Wildheit in der deutschen Literatur des Hochmittelalters.//\\ InH.-P. Ecker (Hrsg.), Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift Hartmut Laufhütte (Passau 1997) 39–60
-  * ''Borchers, Carl''\\ //Wilder MannHeckenmänner, Streckkatzenziehen//.\\ Eine Entdeckung uralten Brauchtums der Reichsbauernstadt in einem Schnitzfeld des Ratsherrnzimmers zu Goslar.\\ 8 S.,  [Goslar] 1935[Geschichtsund heimatschutzverein Goslar]+  * ''Rachewiltz, Siegfried de''\\ //Und finden sich noch täglich in Tirol dergleichen Sachen//\\ Von Waldleuten und Wilden Männern.\\ S. 253-278 in: Leo Andergassen et al.: Artus auf Runkelstein. Stiftung Bozner Schlösser 2014. 
-  * ''Rachewiltz, Siegfried de''\\ //Und finden sich noch täglich in Tirol dergleichen Sachen//\\ Von Waldleuten und Wilden Männern.\\ in: Artus Auf Runkelstein / Hrsg.Stiftung Bozner Schlösser 2014. [Autoren: Leo Andergassen ...]. 253-278. +  * ''Spamer, Adolf''\\ //Die wilden Leute in Sage und Bild//.\\ Bericht über der Vortrag am 18April 1911München: Volkskunst und Volkskunde 9 (1911) 117-123 
-  * ''Spielmann, Heinz''\\ //Der wilde Mann: eine mythologische Figur des Mittelalters.// Kunst und das Schöne Heim. 1964, 204-207.+  * ''Spielmann, Heinz''\\ //Der wilde Mann: eine mythologische Figur des Mittelalters.//\\ Kunst und das Schöne Heim. 1964, 204-207. 
 +  * ''Stock, Lorraine Kochanske''\\ //The Medieval Wild Man.//\\ 256 S. New York 2008: Palgrave Macmillan
  
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