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wiki:wandern

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Wandern

`Wandern´ ist eines der 21 germanischen Nomina der Fortbewegung 1)und findet sich vergleichsweise selten im frühen Deutschen, Englischen (aengl. wandrian) und Altfriesischen (wondrian); in den slavischen Sprachen wendrowaz, wandrowasch, wandrati, im Böhmischen Wandrugi, wandrował, wandrowati 2). Möglicherweise wurzelt es im Altnordischen vǫndr 3) für ‘Stange, Want, Mast’. Vǫnd ist Adjektiv zu vandr ‘schwierig’, vǫndr bedeutet ‘Zauberstab, Veränderer’. Im Altnordischen wird vǫnsuðr mit Wanderer übersetzt, bildlich für `Der Schwingende´ 4). Dieselbe Vorstellung findet sich auch im Persischen und Arabischen (mosāfer مسافر von Musāfahat `die Flügel schwingen´) und im gleichnamigen I-Ging-Zeichen I-Ging-Zeichen 56: Der Wanderer 旅 lǚ.

Ursprünglich bedeutete `wandern´ ganz sachlich `einen geraden Weg zurücklegen´ mit einer Nebenbedeutung von `verändern´ im Sinne von `wandeln´ und `wenden´ als einem endlosen hin und her, vielleicht also an die Erfahrung des Gehens hinter dem Pflug zwischen den Gewänden der Ackerfläche sich anlehnend so wie auch die `Fahrt´ an das Gehen in der Furche angelehnt ist, jedoch früh übertragen wird auf das Unterwegs-sein außerhalb der Gemeinschaft durch die Wildnis. Das Verdrängen der Wildnis und das Wachsen der Städte mit der überregionalen Infrastruktur ermöglichte neue Bedeutungsinhalte für `wandern´:

  • Wandern im Sinne von Fussreisen erscheint erst sinnvoll, wenn das Reiten mit dem Pferd, das Reisen mit der Kutsche oder mit dem Automobil als mögliche Alternative gegenübersteht und das Reisen zu Fuß kultiviert werden kann und verdrängt dann sowohl das verwandte `wandeln´, welches leichter und anmutiger klingt als auch das `wallen´, welches sich als Waller `Pilger´ länger behauptet.
  • Der Wanderzwang der Handwerksgesellen wird in den Zunftstatuten ab dem 14. Jahrhundert festgeschrieben.
  • Wandern erscheint im 15. Jahrhundert als das Zurücklegen einer größeren Strecke durch die Natur.
  • Wandern im Sinne eines romantischen Durchstreifens der Natur wird so erst etwa seit dem 17. Jahrhundert verstanden.
  • Das Wandern wird durch die spirituelle Ausrichtung zum Pilgern, militärisch ab dem 16. Jahrhundert zum Marsch und als tagelanger Sport zum neudeutschen Trekking.
  • Sportmediziner definieren Wandern über eine Schrittgeschwindigkeit von sechs Kilometern pro Stunde - das dürfte jedoch eher die Ausnahme als die Regel sein und ist mit Gepäck untrainiert kaum machbar.
  • Das Wandern wird als Spaziergang sprichwörtlich des Müssiggangs Bruder und reduziert den Marsch zum Schlendern in der Freizeit, manchmal erkennbar am Picknickkorb.
  • Das alte Wort lustwandeln verwandelt das Wandern zum Bummeln und Flanieren. Beide betonen das sich-verlieren ohne auf die Zeit zu achten, doch unterscheiden sie sich durch Stil und Haltung. Allerdings ist es kaum vorstellbar, in der Einsamkeit zu bummeln und zu flanieren. Beide benötigen beide das sehen-und-gesehen-werden als Teil einer Menge, von der sie sich absetzen können, teils durch Lässigkeit oder Überheblichkeit oder Nachdenklichkeit, teils durch offensichtliche Expressivität, erkennbar etwa an Einkaufstasche, Sonnenschirm, Spazierstock, Strohhut oder Pfeife.
  • Gepäckformen wie Felleisen, Berliner, Tornister, Ranzen, Mantelsack oder Rucksack wurden zeittypisch über ihre Notwendigkeit hinaus zum kennzeichnenden Merkmal von Stereotypen und Gruppen; dabei wandelte sich beispielsweise der Rucksack vom Attribut des Wanderers in den letzten Dekaden zum modischen Accessoire und auch der Bergschuh ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr.
  • Stockformen sind bis heute kennzeichnend, etwa als Pilgerstab, als Knotenstock (Stenz) für Wandergesellen, als Ziegenhainer für Studenten, als Spazierstock, als Teleskopstock, als plakettenbeschlagener Wanderstock.
  • Bemerkenswert ist, dass das Wandern zur Wanderschaft werden kann, also zur Bestimmung, zur Lebensphase, zur Haupttätigkeit, weil analoge Bildungen wie Reiseschaft, Fahrschaft nicht existieren. Derart betont erscheinen auch: Wanderjahre, Wandermönch, Wanderprediger, Wanderweg/-pfad.

Der Wanderer in der Kunst

Literatur

siehe auch Literaturliste zum Fußreisen

  • Albrecht, Wolfgang, Kertscher, Hans-Joachim (Hrsg.)
    Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung
    Tübingen 1999.
  • Dieter Arendt
    Der Mensch unterwegs
    in: Zeitwende 38 (1967) 688 - 698
  • Härtling, Peter. 1988. Der Wanderer. 157 S., Darmstadt: Luchterhand Literaturverl.
    Der Autor erzählt von seinen Fussmärschen 1945 durch ein Europa, das in Schutt und Asche lag, von seiner Zeit des Umhergetriebenseins und der Fremdheit. »Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus« - so beginnt die Winterreise von Wilhelm Müller und wird zum Motto von Härtlings Wanderer.
  • Alessandra Riva Die Figur des Wanderers bei Peter Härtling Justus-Liebig-Universität Gießen 2005 Online
    Die Natur, die Jahreszeiten und der zyklische Ablauf in der Bewegung des Wanderers mit Bezügen zu Goethe, Müller (Winterreise-Zyklus) und Nietzsche.

engl. hiking
siehe *Fußreisen

1)
Winfried Breidbach: Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen. Peter Lang 1994 Diss. Köln
2)
Václav Jan Rosa: Thesaurus linguae Bohemicae
3)
vandar, dat. vendi/vǫnd; vendir, acc. vǫndu/vendi
4)
Þul Veðra 1 III/1; das Wort `Achse´ bedeutet schwingen, daher auch `Achsel´, weil die Arme beim Gehen schwingen
wiki/wandern.1632473050.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/09/24 08:44 von norbert

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