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wiki:walz

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wiki:walz [2023/10/04 04:24] – [August Winnig] norbertwiki:walz [2024/04/07 06:59] (aktuell) – [Franz Heinrichs] norbert
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 ===== 1 Einleitung ===== ===== 1 Einleitung =====
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 Um 1900 sind auf den Straßen Deutschlands viele Menschen zu Fuß unterwegs, aus Not, durch Zwang, mehr oder weniger freiwillig: Randgruppen mit ähnlichen Nöten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere drei große Gruppen lassen sich erkennen, wenn auch nicht immer unterscheiden: Um 1900 sind auf den Straßen Deutschlands viele Menschen zu Fuß unterwegs, aus Not, durch Zwang, mehr oder weniger freiwillig: Randgruppen mit ähnlichen Nöten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Insbesondere drei große Gruppen lassen sich erkennen, wenn auch nicht immer unterscheiden:
   * Handwerksburschen auf der Walz   * Handwerksburschen auf der Walz
-  * Wanderarbeiter +  * [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]] 
-  * Vagabunden\\ +  * [[wiki:vagabund|Vagabunden]]\\ 
 Wie reiste das fahrende Volk? Was waren ihre Techniken des [[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs-seins]]? Um das herauszufinden, wird nachfolgend immer wieder aus den veröffentlichten Berichten einzelner Reisender zitiert - einige davon tauchen besonders häufig auf (In Klammern der jeweilige Reisezeitraum): Wie reiste das fahrende Volk? Was waren ihre Techniken des [[wiki:unterwegs-sein|Unterwegs-seins]]? Um das herauszufinden, wird nachfolgend immer wieder aus den veröffentlichten Berichten einzelner Reisender zitiert - einige davon tauchen besonders häufig auf (In Klammern der jeweilige Reisezeitraum):
   * ''Johann Eberhard Dewald'' (1836-1838) ist ein viel verwendetes Beispiel für den typischen reisenden Gesellen im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]].   * ''Johann Eberhard Dewald'' (1836-1838) ist ein viel verwendetes Beispiel für den typischen reisenden Gesellen im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]].
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 ==== Vom Gesellen zum Vagabunden ==== ==== Vom Gesellen zum Vagabunden ====
 Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. ... Beginne nun endlich deine [[wiki:fahrt|Fahrt]] und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.“ Er unterscheidet drei Arten zu reisen und hebt den Mut als bedeutsames Element der Walz hervor. Bereits klar im Blick ist der drohende Abstieg zum [[wiki:vagabund|Vagabunden]]. Die Polizei ist scharf hinter den Handwerksburschen her und kontrollieren peinlich genau, wer die Grenze zum Vagabunden überschreitet: //„Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt ((Verratzen bedeutet im Rotwelschen verlieren, verraten und kommt von der Grundform „ratschen“)), denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.“// ((Schroeder, S. 118))\\  Pfarre geht mit Hamburger Wandervogel-Freunden auf eine vierwöchige Ferienfahrt durch die Rhön und den Thüringer Wald, dann sagt er sich: „Ihr habt eine Ferienfahrt gemacht als sorglose Wandervögel, nun kommt deine Reise als Handwerksbursche, vielleicht bald als Landstreicher. ... Beginne nun endlich deine [[wiki:fahrt|Fahrt]] und wage mutig den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.“ Er unterscheidet drei Arten zu reisen und hebt den Mut als bedeutsames Element der Walz hervor. Bereits klar im Blick ist der drohende Abstieg zum [[wiki:vagabund|Vagabunden]]. Die Polizei ist scharf hinter den Handwerksburschen her und kontrollieren peinlich genau, wer die Grenze zum Vagabunden überschreitet: //„Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt ((Verratzen bedeutet im Rotwelschen verlieren, verraten und kommt von der Grundform „ratschen“)), denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.“// ((Schroeder, S. 118))\\ 
-Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //„Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht“// ((Pfarre, S. 22)) helfen der Polizei, Gesellen von [[wiki:vagabund|Vagabunden]] zu unterscheiden. Rein äußerlich gleichen sich Gesellen, Vagabunden, Wanderarbeiter: sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, kein Geld, selten Arbeit und übertreten alle das Verbot der Bettelei. Immer wieder wird die Walz verteidigt als: //„jene einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschuen, welche weder in den ersten Cafes und Hotels der Residenz, noch in die verkommensten Schnapskneipen der Provinzstädtchen, sondern in die Werkstätten berühmter und geachteter Meister führt, nicht um den Prahlhans mit des Vaters Talern, noch den Schnapsbruder mit den erbettelten Pfennigen, sondern den soliden Sohn schlichter bürgerlicher Eltern zu spielen, der, seine Kenntnisse erweiternd und sich ausbildend, mit dem Zeitgeist heute vorwärts schreitet, wie sein Vater vor einem Mannesalter, mit dem Geiste jener Zeit vorwärts schreitend, sich zum wackren Geschäftsmann herangebildet hat.“// ((J.M. Hornstein „Das Wandern, eine Lebensfrage des Gewerbestandes“ Neuburg /Donau 1857, S.4))\\ +Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //„Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht“// ((Pfarre, S. 22)) helfen der Polizei, Gesellen von [[wiki:vagabund|Vagabunden]] zu unterscheiden. Rein äußerlich gleichen sich Gesellen, Vagabunden, [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]]: sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, kein Geld, selten Arbeit und übertreten alle das Verbot der Bettelei. Immer wieder wird die Walz verteidigt als: //„jene einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschuen, welche weder in den ersten Cafes und Hotels der Residenz, noch in die verkommensten Schnapskneipen der Provinzstädtchen, sondern in die Werkstätten berühmter und geachteter Meister führt, nicht um den Prahlhans mit des Vaters Talern, noch den Schnapsbruder mit den erbettelten Pfennigen, sondern den soliden Sohn schlichter bürgerlicher Eltern zu spielen, der, seine Kenntnisse erweiternd und sich ausbildend, mit dem Zeitgeist heute vorwärts schreitet, wie sein Vater vor einem Mannesalter, mit dem Geiste jener Zeit vorwärts schreitend, sich zum wackren Geschäftsmann herangebildet hat.“// ((J.M. Hornstein „Das Wandern, eine Lebensfrage des Gewerbestandes“ Neuburg /Donau 1857, S.4))\\ 
 Winnig schafft es tatsächlich, sich zwei Jahre als Geselle über Wasser zu halten und findet Arbeit. Als er reist (um 1897) gibt es in Deutschland gerade einen Aufschwung, Arbeit ist leicht zu bekommen, das Ruhrgebiet boomt:// „Nach 1896 ging es dann aber aufwärts - so schnell, daß 1912 ein angesehener Publizist ernsthaft behauptete, allein jenes Wirtschaftswunder rechtfertige schon den deutschen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Welt.“// ((Bieber, S. 2)) \\  Winnig schafft es tatsächlich, sich zwei Jahre als Geselle über Wasser zu halten und findet Arbeit. Als er reist (um 1897) gibt es in Deutschland gerade einen Aufschwung, Arbeit ist leicht zu bekommen, das Ruhrgebiet boomt:// „Nach 1896 ging es dann aber aufwärts - so schnell, daß 1912 ein angesehener Publizist ernsthaft behauptete, allein jenes Wirtschaftswunder rechtfertige schon den deutschen Anspruch auf eine Vormachtstellung in der Welt.“// ((Bieber, S. 2)) \\ 
 Winnig ist Handwerker, sucht aber seine Identität stärker im Dichterdasein. Als er einmal einen Aristokraten kennenlernt, idealisiert er ihn, nimmt selber Züge eines abgehobenen Verhaltens an. Die Sprache der Kunden lehnt er ab, preist das ruhige, bürgerliche Benehmen. Und als er Hannover verläßt, stellt er fest: //„Es hat uns nicht gefallen, den langen Weg zur Stadt hinaus zu gehen; der Wanderbursche paßte schon damals nicht mehr in das Straßenbild der großen Städte.“// ((Winnig, S. 100)) Und das, obwohl es in Hannover 500 Baustellen gab? Immer wieder betont er, daß er nur notgedrungen mit Kunden zusammengehe, ihre Gesellschaft schätzt er nicht. Nach über einem Jahr auf der Landstraße zieht er tatsächlich mit drei Kunden los und übt gemeinsam mit ihnen in einem Dorf das Fechten. Dabei bleibt es dann auch. Er studiert und beobachtet das fahrende Volk, aber mit dem Herzen ist er nicht dabei.\\  Winnig ist Handwerker, sucht aber seine Identität stärker im Dichterdasein. Als er einmal einen Aristokraten kennenlernt, idealisiert er ihn, nimmt selber Züge eines abgehobenen Verhaltens an. Die Sprache der Kunden lehnt er ab, preist das ruhige, bürgerliche Benehmen. Und als er Hannover verläßt, stellt er fest: //„Es hat uns nicht gefallen, den langen Weg zur Stadt hinaus zu gehen; der Wanderbursche paßte schon damals nicht mehr in das Straßenbild der großen Städte.“// ((Winnig, S. 100)) Und das, obwohl es in Hannover 500 Baustellen gab? Immer wieder betont er, daß er nur notgedrungen mit Kunden zusammengehe, ihre Gesellschaft schätzt er nicht. Nach über einem Jahr auf der Landstraße zieht er tatsächlich mit drei Kunden los und übt gemeinsam mit ihnen in einem Dorf das Fechten. Dabei bleibt es dann auch. Er studiert und beobachtet das fahrende Volk, aber mit dem Herzen ist er nicht dabei.\\ 
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 ==== Die Bruderschaft der Vagabunden ==== ==== Die Bruderschaft der Vagabunden ====
 Künstler und Intellektuelle gingen aus ideologischen Gründen auf die Landstraße. ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der [[wiki:vagabund|Vagabunden]], den „Kunden“, heraus, Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer. Gog gründete die „Bruderschaft der Vagabunden“. Zusammen mit Pfarrern, Dichtern, Anarchisten und Malern, Träumern und Wanderpredigern, Jugendbewegten und Asozialen, alle auf der Landstraße, baute man Kontakte zu den Berliner „Anarcho-Syndikalisten“ und der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ auf. Sie alle trugen zum „Kunden“ bei. 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 gab es dann das erste große Vagabunden-Treffen in Stuttgart mit 600 Teilnehmern aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten - aber keine aus Frankreich. ((Sergej Tretjakow, Der König der Vagabunden in: Trappmann, S. 329)) 1930 wird erstmals ein Vagabundenfilm gedreht, an dem Gregor Gog und zahlreiche andere [[wiki:vagabund|Vagabunden]] teilhaben. Im gleichen Jahr gibt es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in mehrere KZs und kann Ende 1933 in die Schweiz fliehen. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten. Künstler und Intellektuelle gingen aus ideologischen Gründen auf die Landstraße. ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der [[wiki:vagabund|Vagabunden]], den „Kunden“, heraus, Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer. Gog gründete die „Bruderschaft der Vagabunden“. Zusammen mit Pfarrern, Dichtern, Anarchisten und Malern, Träumern und Wanderpredigern, Jugendbewegten und Asozialen, alle auf der Landstraße, baute man Kontakte zu den Berliner „Anarcho-Syndikalisten“ und der „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ auf. Sie alle trugen zum „Kunden“ bei. 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 gab es dann das erste große Vagabunden-Treffen in Stuttgart mit 600 Teilnehmern aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten - aber keine aus Frankreich. ((Sergej Tretjakow, Der König der Vagabunden in: Trappmann, S. 329)) 1930 wird erstmals ein Vagabundenfilm gedreht, an dem Gregor Gog und zahlreiche andere [[wiki:vagabund|Vagabunden]] teilhaben. Im gleichen Jahr gibt es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in mehrere KZs und kann Ende 1933 in die Schweiz fliehen. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten.
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 ===== 8 Und heute? ===== ===== 8 Und heute? =====
-Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, Wanderarbeiter und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die [[wiki:vagabund|Vagabunden]] mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\ + 
 +Die große Zeit der Handwerksgesellen ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg vorbei. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der [[wiki:grundfreiheiten|Gewerbefreiheit]] im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] hatte diese Bewegung ihren Zenit überschritten. Winnig kam sich 1897 in den großen Städten fehl am Platze vor. Die Industrialisierung Europas und die sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen führten in Schüben immer mal wieder zu einem Anstieg der Massen auf den Straßen. Doch nun nahmen Arbeiter, [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]] und Lumpenproletariat die Stelle der Gesellen ein. 1927 waren 70.000 Menschen auf den Straßen Deutschlands unterwegs, sechs Jahre später waren es bereits wieder 450.000. ((Trappmann, S. 15)) Immer spiegelte sich in den Wanderungsbewegungen die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit. Die Nationalsozialisten brachten ab 1933 die [[wiki:vagabund|Vagabunden]] mit allen Mitteln von der Straße: Arbeitslager, Verhaftung, Razzien, [[wiki:muendigkeit|Entmündigung]], Psychiatrisierung und sechs Jahre Krieg beseitigten fast alle Spuren der Heimatlosen. ((Kadereit)) Auch für die „Nicht-Seßhaften“ von heute ist die Landstraße meist ohne Romantik, sondern hat eher mit dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und sozialem Abstieg zu tun.\\ 
 Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit //Ehrbarkeit// ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), //Staude// ((Hemd)), //Schlapphut, Stenz// (([[wiki:stab|Stock]])) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den //Berliner// mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und //scheniegeln// ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei //Krautern// ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\  Vereinzelt wandern Handwerksgesellen noch heute mit //Ehrbarkeit// ((Früher Rotwelsch: Halsbinde, heute Krawatte)), //Staude// ((Hemd)), //Schlapphut, Stenz// (([[wiki:stab|Stock]])) und schwarzen Cordhosen. Auch wenn sie nicht mehr Teil einer gesellschaftlichen Massenbewegung sind, so erhalten sie doch die Traditionen aufrecht. Sie werden „als Exoten bestaunt in einer durchtechnisierten, profitorientierten Welt“. ((Schiemann)) Sie tragen immer noch den //Berliner// mit Rasierpinsel, Unterwäsche, Schuhputzzeug, Hammer, Lot und Wasserwaage und //scheniegeln// ((Arbeiten, von Schinagole (jidd. = Schubkarre))) bei //Krautern// ((Krauter wird der Handwerksmeister genannt, insbesondere der zunftlose auf dem freien Land)). Etwa 3000 organisierte Gesellen gab es 1985: sie dürfen keine dreißig Jahre alt sein, weder verheiratet noch vorbestraft, dürfen keine Schulden haben, sollen charakterfest im Umgang mit Alkohol sein. Sogar eine „Confédération Compagnonnages“ der europäischen Gesellenzünfte gibt es.\\ 
 Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und [[wiki:vagabund|Vagabunden]] bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\  Und die andere Seite, die Vagabunden, Berber, Landstreicher? Ihre Zahl nimmt zu, entsprechend der Arbeitslosenquote. 1971 lebte ein Reporter eine Woche lang als Penner, schlief im Düsseldorfer Nachtasyl der Franziskaner und in der Hamburger Mönckebergstraße. Acht Tage Betteln brachten ihm 31,88 Mark ein. Und die Gespräche im Asyl hätten auch 50 Jahre früher stattfinden können. Der eine will in den Süden, nach Spanien, //wo´s warm is´.// Eine Nutte schüttet sich die Bierreste aus den Gläsern zusammen, den //Klapperschluck//. ((Klappern bedeutet im rotwelschen betteln.)) 1975 ziehen wieder zwei Reporter mit den Pennern los. Da treffen sie dann beispielsweise den Ex-Söldner, der jedes Jahr sechs- bis achtmal kreuz und quer durch Deutschland zieht, zu Fuß, per Anhalter oder mit Zug und „Bahnbenutzungsgenehmigung“ des Sozialamtes, von einer der 700 Herbergen zur nächsten. Und sie werden immer noch „abgebient“, nach Läusen untersucht. In der Celler Herberge zur Heimat will der Diakon 1,30 Mark pro Nacht und für die Flasche Bier 1,10. Gegessen wird auf Kommando: nach sieben Minuten sind Graupensuppe und Brot verschlungen. Am nächsten Tag geht es weiter, denn in den meisten Herbergen darf man nur alle sechs bis zwölf Monate übernachten. //„Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen - weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber ((Mit Berber werden seit ein, zwei Jahrzehnten die modernen Landstreicher und [[wiki:vagabund|Vagabunden]] bezeichnet. Es scheint eine Neuschöpfung des Rotwelschen zu sein.)) Einzelgänger, die keinem trauen.“// ((Holzach)) \\ 
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   - //Der Zirkus. 20 Holzschnitte//. Berlin. Behr 1920.\\    - //Der Zirkus. 20 Holzschnitte//. Berlin. Behr 1920.\\ 
 ==== Franz Heinrichs ==== ==== Franz Heinrichs ====
-(* ca. 1879) reist von Juni 1896 bis Oktober 1898 von Münster durch Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Rumelien, Türkei, Syrien, Palästina, Ägypten, Italien, die Schweiz und zurück nach Münster. Er ist gelernter Friseur, lebt unterwegs von Erspartem, von Geldsendungen der Eltern und von vereinzelten Arbeitsstellen. Neben seinem Reisebericht, der mehrere Auflagen erlebt, schreibt er einige später noch ein Buch mit dem Titel „Sollen wir auswandern?“ Ihm ist ein eigener ausführlicher Bericht in dieser Reihe gewidmet worden+(* ca. 1879) reist von Juni 1896 bis Oktober 1898 von Münster durch Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Rumelien, Türkei, Syrien, Palästina, Ägypten, Italien, die Schweiz und zurück nach Münster. Er ist gelernter Friseur, lebt unterwegs von Erspartem, von Geldsendungen der Eltern und von vereinzelten Arbeitsstellen. Neben seinem Reisebericht, der mehrere Auflagen erlebt, schreibt er einige später noch ein Buch mit dem Titel „Sollen wir [[wiki:liste_ausstellungen#auswanderer|auswandern]]?“ Ihm ist ein eigener ausführlicher Bericht in dieser Reihe gewidmet worden.
  
 ==== Alfred Pfarre ==== ==== Alfred Pfarre ====
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 ==== Stichwortverzeichnis ==== ==== Stichwortverzeichnis ====
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 Abdecker\\  Abdecker\\ 
 abgebient\\  abgebient\\ 
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 Jenischen\\  Jenischen\\ 
 Kaff\\  Kaff\\ 
-Kalle\\  
 Kalle\\  Kalle\\ 
 Kardasch\\  Kardasch\\ 
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 Zimmerer\\  Zimmerer\\ 
 Zunftherberge\\  Zunftherberge\\ 
 +
 ===== Anmerkungen & Quellenangaben ===== ===== Anmerkungen & Quellenangaben =====
  
wiki/walz.1696393463.txt.gz · Zuletzt geändert: 2023/10/04 04:24 von norbert

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