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wiki:strannicestvo

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Stranničestvo

Dieser russische Begriff mit Sinnbezug zu `umherschweifen´ beschreibt etwa ab dem 15.–16. Jahrhundert eine Lebensform, die vom einfachen Volk praktiziert wurde, also Wandern ohne ein örtliches oder räumliches Ziel, jedoch verbunden mit Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, dem Pilger (strannik »странник«) vergleichbar.

Diese Art des Wanderns erscheint insbesondere an der Peripherie des russischen Raumes und war charakteristisch für Sibirien; sie teilten sich das Land mit Verbannten und Vertriebenen. Die Größe des Raumes, die klimatischen Verhältnisse in Tundra und Taiga, die besondere Infrastruktur (Ice Roads, Rasputica) und der Mangel an Fahrzeugen ermöglichten es den Herrschern, einen ganzen Landesteil als »Gefängnis« zu nutzen, das durch Eis, Wüsten und Gebirge abgeschlossen war. Unter diesen Umständen hat die Metapher des Weiten Landes eine andere Bedeutung als in Europa:

  • inmitten dieser leeren Wälder »средипустынниыхсихлесов«
  • in diesem öden, fernen Land »Встранеглухой, встранесейдальной«
  • der Wanderer in der aufgeklärten Wüste »Впустынестранникпросвещенной«
  • in der bewaldeten Ödnis »вглушилесной«
  • Inmitten von Wäldern und dräuenden Felsen,/ Freudlos wie ein ewiger Gefangener
    »Междулесовигрозныхскал,/ Каквечныйузникбезотраден«

Mit diesen von ihr übersetzten Zitaten 1) belegt Anne Klier ein Konzept »der Gefangenschaft in der Leere der Natur« 2).

  • Der Vertriebene (изгнанник izgnannik) darf sich nicht an einem bestimmten Ort aufhalten, darüber hinaus gibt es keine Einschränkungen. Für ihn gibt es jedoch kein `zurück´, er wird ewig einsam und entfremdet bleiben.
  • Der vom Souverän Verbannte (ссыльный«) hat sich von diesem zwar weitmöglichst zu entfernen, darf dessen Machtbereich jedoch nicht verlassen, muss sich also an der Peripherie aufhalten, und wird zur liminalen Figur.
  • Der Abgeschobene oder Exilant muss diesen Machtbereich verlassen, also die Grenze überschreiten.
  • Für den Wanderer und Pilger ist die Grenze unbedeutend, solange sie seine Bewegung nicht aufhält. Solange er kein geographisches Ziel hat, ist die Grenze gar bedeutungslos. Mit seinem Aufbruch hat er bereits die einzige Grenze überschritten, die ihn hätte zurückhalten können, die Schwelle von Heim und Heimat.

Literatur

  • Smirnov, I.
    Homo in via
    In: Genesis. Filosofskie očerki po sociokul'turnoj načinatel'nosti. Sankt Petersburg 2006, 236–250
  • Frank, S.
    Einleitende Bemerkungen zum Thema »Reisen in der russischen Kultur«
    In: Wiener Slawistischer Almanach WSA LII (2007), 201.
  • Kollman, N.S.
    Pilgrimage, Procession and Symbolic Space in 16th–Century Russian Politics
    In: Medieval Russian Culture. Vol. II. Hg. S. Flier, D. Rowland. Berkeley 1994, 163–181
1)
Ryleev, K.F. Vojnarovskij. Moskva 1825 und in: Stichotvorenija, stat’i, očerki, dokladnye zapiski, pis’ma. Moskva 1956, 167–207: Selivanovskij., 194, 195, 199, 199
2)
Krier, Anne
Reisen als Verfahren: Subjektentwürfe und epistemische Prozesse in der russischen Verbannungs- und Lagerliteratur des 18.–20. Jahrhunderts
Dissertation Zürich 2016
wiki/strannicestvo.1619604463.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/04/28 10:07 von norbert

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