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Räder & Reifen abseits der Straße

Sie sind schwarz und sie sind rund. Über alles andere wird gestritten. Seltsam, denn es muss sich ja jeder darauf verlassen können. Man scheint viel zu wissen, doch das Wissen ist nicht gut geordnet und noch weniger zugänglich. Die Foren sind voller Fragen mit noch mehr Meinungen, jedoch nur wenigen belastbaren Antworten. Ansätze dazu lassen sich auf mehreren Wegen finden:

  • geschichtlich: Wie wurde das früher gelöst?
  • praktisch & einfach: Wie lösen das Leute mit ähnlichen Interessen?
  • praktisch & professionell: Wie lösen das die Profis in der Armee, auf Baustellen, in der Landwirtschaft, bei Rallyes …?
  • wirtschaftlich: Was wird hergestellt und erfolgreich verkauft?
  • wissenschaftlich: Was bieten Forschung und Theorie?

Die historisch besten Reifen

Eselskarren, Ochsenwagen, Pferdekutschen … Jahrtausende der Radentwicklung führten tendenziell zu harten, profillosen, schmalen und großen Speichenrädern aus metallbeschlagenem Holz. Auf solchen Rädern wurden antriebslose Lastkarren über Natur- und Bohlenwege, Kies- und Steinstraßen gezogen – in vielen Ländern noch heute. So schlecht kann diese Lösung nicht gewesen sein, denn die historische Entwicklung lässt unerbittlich nur das zu, was unter den bestehenden Umständen machbar und erfolgreich ist.

Anforderungen an Räder

Alle Räder sind gleich? Nicht wirklich. Räder sind nur erfolgreich als Teil des Wagens und der Wagen wird für bestimmte Zwecke gebaut: als Lastwagen, Sportwagen, Kultwagen, Kriegswagen … Mit den gewünschten Fahrzeugeigenschaften verändern sich dann auch die Räder. Rollende Fahrzeuge verlangen von allen Rädern mindestens

  • Tragfähigkeit, indem sie über die Radlast einen Teil der Wagenmasse tragen
  • Leichtlauf, also möglichst geringe Verluste durch Reibung
  • Spurtreue, also geringe seitlich wirkende Kräfte

Von manchen Rädern und Achsen wird mehr erwartet, nämlich:

  • Lenkfähigkeit
  • Bremsfähigkeit
  • Kraftübertragung
  • Antriebsfähigkeit (nicht für gezogene Fahrzeuge)

Große Räder waren so erfolgreich, weil sie gleich eine handvoll Eigenschaften verbessern, nämlich Leichtlauf, Spurhalte- und Bremsfähigkeit. Zudem verbessern sie die Geländegängigkeit, indem sie die Bodenfreiheit und die Wattiefe des Fahrzeugs erhöhen.
Im 19. Jahrhundert verloren die großen Räder zunächst den Anschluss, denn die Fahrzeugtechnik wurde revolutioniert durch selbst angetriebene Fahrzeuge auf Rädern. Diese verlangten nun von von manchen Rädern zusätzlich Antriebsfähigkeit. Insbesondere die dazu notwendige kraftschlüssige Verbindung zum Untergrund ließ sich mit der herkömmlichen Radtechnik zunächst nur auf selbstverlegten Gleisen herstellen, deshalb heißt es Eisenbahn und rail way.

Asphaltstraßen und Luftreifen

Um 1860 setzte sich das Fahrrad mit Pedalantrieb und großen Vollgummirädern durch. Das war nur möglich mit Kautschuk aus den Kolonien Südamerikas und Südostasiens und der Fähigkeit diesen zu vulkanisieren.
1870 waren in Paris als erster europäischer Großstadt alle Straßen asphaltiert – endlich glatte Fahrbahnen für selbst angetriebene Fahrzeuge. Asphalt war ein Abfallprodukt der US-amerikanischen Erdölindustrie.
Mit den neuen Materialien Asphalt und Gummi konnten erstmals selbst angetriebene Fahrzeug ständigen Kraftschluss zur Fahrbahn halten.
1886 lenkte Karl Benz sein erstes Automobil mit Verbrennungsmotor auf drei großen mit Vollgummi bereiften Drahtspeichenrädern aus dem Fahrradbau. Jahrzehnte vergingen, bis große Luftreifen für Nutzfahrzeuge und den Geländebetrieb hergestellt werden konnten und die Metallräder (grob profiliert, groß und breit) auch vom Acker verdrängten.
1888 entwickelte der Schotte Dunlop das erste Patent für den Fahrradluftreifen. Ideengeschichtlich folgte das Automobil jedenfalls den Rollschuhen, der Straßenlokomotive und dem Kurbelvelociped, einem Hochrad mit Pedalen. 1910 gab es in Berlin mehr Rollschuhläufer als Fahrradfahrer [Kulke 2013].

Warum rollen Räder?

Schwerkraft und Reibung

Dass sich Fahrzeuge mittels Rädern fortbewegen können, setzt Schwerkraft und Reibung voraus. Ohne Schwerkraft keine Reibung, ohne Reibung keine rollende Bewegung. Reibung ist ebenso notwendig wie unerwünscht, wie man am Beispiel des Skateboard anschaulich sieht:

  • die Gleitreibung in den Metall-Lagerbuchsen der Rollen soll minimal sein
  • die Rollreibung zwischen Hartgummirollen und glattem Untergrund soll einerseits so groß sein, daß die wirkenden Antriebskräfte maximal übertragen kann (siehe Kraftschlussbeiwert unten), jedoch auch nicht größer (Bremswirkung durch ständige Reibungsverluste).
  • die Haftreibung zwischen weicher Schuhsohle und rauhem Untergrund soll möglichst hoch sein, damit möglichst große Antriebskräfte erzeugt werden können.

Ein mit Gefälle abgestelltes Fahrzeug kann von allein rollen, weil die Schwerkraft auch tangential auf dessen Masse wirkt. Dem entgegen wirkt die Haftreibungskraft zwischen Rad und Untergrund. Bei geringem Gefälle bewegt sich nichts. Der Wagen rollt erst, wenn mit zunehmendem Gefälle die hangabwärts gerichtete tangentiale Kraft größer wird als die hangaufwärts gerichtete Haftreibungskraft.
Die Größe der Haftreibung wird bestimmt durch die Eigenschaften der aufeinander wirkenden Materialien: Metall-, Holz-, Gummiräder … auf Asphalt, Beton, Eis … Ein gebremstes und mit Gefälle abgestelltes Fahrzeug geriete ins Gleiten, wenn über Nacht eine Eisschicht unter den Rädern entstünde. Dabei verringert sich lediglich der Haftreibungskoeffizient von Gummi auf Asphalt zu Gummi auf Eis. Der Wagen gerät in Bewegung, weil die hangaufwärts gerichtete Haftreibung über Nacht kleiner wird als die hangabwärts gerichtete Schwerkraft.

Reibungskoeffizienten

Alle drei (Haft-, Gleit-, Roll-)Reibungskoeffizienten sind materialabhängig. Der Idealzustand mit einem perfekt runden, harten und glatten Rad, das eine perfekt glatte, harte und einheitliche Oberfläche in einem Punkt berührt ist annähernd berechenbar (Coulomb):

  • Nah an der Theorie bewegen sich die Eisenbahn auf Metallgleisen oder eine Straßenwalze auf Eis.
  • Für Reifen auf Asphalt oder Beton liegen die Reibungskoeffizienten etwa bei 90%.
  • Der Gleitreibungskoeffizient liegt rund 10% niedriger.
  • Rollwiderstandskoeffizienten liegen nochmals um Zehnerpotenzen niedriger.
  • Eine feuchte Straße senkt die Koeffizienten um bis zu 50%.
  • Vereister Untergrund senkt die Koeffizienten auf etwa 10%
  • Doppeltes Fahrzeugtempo senkt die Koeffizienten um etwa 10%.

Gleitschichten auf Wasser, Lehm und Eis

Wasser: Bei zu schnellen Flussdurchfahrten auf betonierten *low-level-bridges kann man erleben, dass die Wasserströmung das Fahrzeug seitlich abtreibt – verzweifelt wünscht man sich Reibung. 1960 ließ Dunlop das (damals neu erkannte) Phänomen des Aquaplaning untersuchen. Dabei schiebt sich ein Wasserkeil unter das Rad. Die Reifenaufstellfläche wird von vorne nach hinten immer kleiner, bis die Reifen »aufschwimmen«, das Fahrzeug »surft«, jedoch ohne Kiel und Schwert. Es gibt kaum bis keine Kraftübertragung vom Fahrzeug auf den Untergrund, keine Reibung, damit auch keine Lenkmöglichkeit. Hauptfaktor für diesen Effekt ist die Geschwindigkeit.

Lehm: Eine auf den ersten Blick vergleichbare Situation findet man auf nassen Lateritstraßen in den Tropen. Wenige Minuten Regen erzeugen eine millimeterdünne Gleitschicht, nanofeine Staubteilchen binden Wasser, der entstehende pastöse Teig belegt die Reifenoberfläche, die Haftreibung sinkt gegen Null, der Wagen kommt ins Gleiten – egal wie groß die Reifen sind, egal wie schwer der Wagen ist.

Eis: Unter dem Druck eines rollenden oder gleitenden Rades auf Eis entsteht Wärme durch Reibung. Das Eis schmilzt oberflächlich an und es bildet sich eine Wasserschicht zwischen Eis und Rad, die Gleitreibung wird sprunghaft kleiner. Dieser Effekt erklärt die rätselhaften »wandering rocks« im Death Valley Nationalpark, USA. Diese bewegen sich um die Mittagszeit auf einer angetauten Eisschicht im eigenen Schatten, dann genügt Wind als antreibende Kraft. Auf sehr kaltem und trockenem Eis steigt die Reibung jedenfalls wieder, siehe auch *Ice Roads.

Gegenmaßnahmen: Alles, was den trennenden Film zerreißt: tiefes, grobes und wasserableitendes Profil, schmale und harte Reifen, hoher Luftdruck, Schneeketten … Breitere Reifen sind bei Gleitschichten eher nachteilig. Die Reifen müssen sich mit dem Untergrund verzahnen. Daher hilft es manchmal rückwärts zu fahren: die Hinterreifen mit der höheren Achslast ziehen irgendwann auch die Vorderreifen auf die Fahrbahn.

Widersprüchliche Reibung und was wir uns darunter vorstellen

Verzahnt: Nach alltäglichem Erfahrungswissen nimmt Reibung an rauhen Oberflächen zu, weil die Oberflächen stärker reiben. Formschlüssige makroskopische Reibungsursachen werden insbnesondere durch Polieren minimiert. Umgekehrt nimmt Reibung an glatten Oberflächen aber nur bedingt ab und oft sogar zu, wie man an zwei aufeinanderliegenden Glasplatten feststellen kann. Diese andere Form der Reibung wird durch Trennschichten (Öl, Wasser, Staub) minimiert.

Verklettet: Je glatter eine Fläche makroskopisch erscheint, desto mehr Kontaktpunkte kann sie im Mikrobereich finden. Reibende glatte Flächen kann man sich als Klettverschluss vorstellen, also als Summe unzähliger kleiner Kontaktpunkte, die gelöst und neu verbunden werden können, oder abgerissen werden durch zu viel Kraft oder unwirksam in Falten liegen usw.
Beim Übergang von Haft- zu Gleitreibung bewegen sich diese Kontaktpunkte je stärker desto mehr Kraft auf sie wirkt. Kontaktpunkte werden ständig gelöst, andere binden sich ständig wieder. Abgescherte Materialteilchen und Feuchtigkeit schieben sich zwischen die Kontaktpunkte, erschweren neue Bindungen. Im dynamischen Gleichgewicht des Gleitens sind die Kontaktpunkte also durchschnittlich überwiegend bindungslos, die übrigen sorgen für die Gleitreibung. Die Gleitreibekraft ist daher immer kleiner als die Haftreibekraft; beide werden größer mit dem Druck, den die Materialschichten aufeinander ausüben, also auch mit der Masse des Fahrzeugs.

Verbunden: Das Klettverschlussbeispiel erklärt aber nur einen Teil der Haftreibung. Im Mikrobereich wirken aber neben kraftschlüssigen Ursachen wie Adhäsion und Scherung, auch elastische und plastische Deformation sowie formschlüssige Furchung. Insbesondere letztere wirkt zerstörend, bewirkt Materialverschleiß und erzeugt Wärme.

Kraftschluss und Schlupf = Kraftschlupf?

Reibungsverluste: Keine Antriebsenergie kann zu 100% in Bewegungsenergie umgewandelt werden, kein Rad kann Kraft zu 100% auf den Untergrund übertragen, denn es gibt immer »Wärmeabfall«. Energie »dissipiert«, der warme Reifen belegt es. Die Radwiderstände verzehren im Normalbetrieb etwa 45% der Motorleistung; der Rest ist verfügbar für Luftwiderstand, Beschleunigung, Anstieg und das Ziehen einer Last. Reibungsverluste entstehen sowohl durch Verformungen zwischen Reifen und Untergrund als auch aus dem unvermeidbaren Gleiten der Reifenaufstandsfläche während der Rollbewegung.

Schlupf: Dreht sich das Rad einmal, so wird ein Teil des Radumfangs nicht in Fortbewegung umgesetzt, sondern verschwindet im »Schlupf«. Dieser liegt auf der Straße bestenfalls bei ein Prozent, steigt schnell auf rund zehn Prozent und schert, wenn er auf mehr als zwanzig Prozent steigt, die Bodenoberfläche ab. Werden die Antriebskräfte noch größer, so reißt die Kraftübertragung zum Untergrund völlig ab, das Rad dreht durch, der Schlupf steigt auf 100%. Dasselbe geschieht beim Bremsen: reißt die Kraftübertragung zum Untergrund völlig ab, blockiert das Rad - der Schlupf beträgt 100%.

Die »freie Zugkraft« eines Fahrzeugs wird bezogen auf dessen Gesamtmasse und ist bestimmt durch
(a) den Kraftschluss der Reifen auf den Untergrund und
(b) das Drehmoment des Motors
(c ) abzüglich dem Reibungsverlust Da es im Gelände meist um das Anfahren geht bzw. um das langsame Bewältigen von Steigungen, bleibt der Luftwiderstand praktisch wirkungslos. Die freie Zugkraft steigt dann mit der Last auf den angetriebenen Achsen und nimmt ab mit der Masse des gesamten Fahrzeugs. Daher ist es falsch zu sagen, ein leichteres Fahrzeug habe mehr freie Zugkraft. Vielmehr kommt es auf die Verteilung dieser Masse an.

Der Kraftschlussbeiwert und seine Parameter

Die kraftschlüssige Verbindung zwischen Reifen und Untergrund kann prinzipiell nur begrenzt Kräfte übertragen; das Maß für die maximal übertragbare Tangentialkraft ist der Kraftschlussbeiwert (auch: Reibbeiwert).

  • Auf ebener, trockener und sauberer Straße wird die maximale Reifenaufstellfläche bei hohem Reifendruck erreicht.
  • Der Kraftschluss findet sein Maximum bei etwa 10% Schlupf und wird dann schlechter, also etwa mit steigender Geschwindigkeit oder schlechterem Untergrund.
  • Zunehmende Achslast und das Senken des Reifeninnendrucks vergrößern die Reifenaufstellfläche bis zu einer bestimmten Grenze – beides verbessert den Kraftschluss, jedoch nicht beliebig.
  • Da jedes angetriebene Rad zum Kraftschluss beiträgt, verbessert Allradantrieb den Kraftschluss ebenso wie Zwillingsbereifung.
  • Optimal ist Allradantrieb eingesetzt, wenn die Verteilung des Drehmoments im Verteilergetriebe der Verteilung der Achslasten beim beladenen Fahrzeug entspricht, vorteilhaft ist meist rund 33:67 [Hoepke 2016]. Für spezielle Anwendungen kann das stark schwanken (60:40 beim Unimog).

Längskraft und Seitenkraft

Die maximale Kraft, die ein Reifen auf die Fahrbahn übertragen kann muss ausreichen für zwei Komponenten:

  1. Längskraft für Antrieb & Bremsen und
  2. Seitenkraft fürs Lenken & für Spurführung.

Werden also 95% der maximal verfügbaren Kraft für Traktion in der Geradeausfahrt eingesetzt, bleiben nur 5% übrig zum Spurführen und Lenken. Erfordern Bergfahrten oder Spurrillen also hohe seitliche Kräfte, bleibt entsprechend wenig für Traktion übrig. Die für das Fahren im Gelände unvorhersehbaren Situationen sind also grundsätzlich durch langsames Fahren besser beherrschbar.

Der »Kammsche Kreis« veranschaulicht dieses Zusammenspiel. Der größere äußere Kreis entspricht der Fahrbahn mit dem höheren Kraftschlussbeiwert, die inneren Kreise zeigen Fahrbahnen mit geringeren Kraftschlussbeiwerten. In der Praxis ist der Kreis allerdings elliptisch.

Der plastisch verformbare Luftreifen

Gummi ersetzt nicht einfach Holz oder Metall. Als viskoelastisches Material vereint es Eigenschaften flüssiger und fester Stoffe und eröffnet Möglichkeiten, die es zuvor nicht gab. Daher lässt sich die Kraftübertragung eines Gummireifens mit den klassischen Reibungskräften nicht mehr erklären. Die Reifenaufstandsfläche (Latsch), die für die Haftreibung keine Rolle spielt, wird nun entscheidend.

Die Reifenaufstandsfläche

Ein Pkw hat auf glattem Untergrund eine Reifenaufstandsfläche von rund 200 qcm. Das lässt sich für das eigene Fahrzeug leicht messen indem der Boden rund um die Reifen mit Mehl gepudert wird. Dann den Wagen wegfahren und die nicht-weiße Fläche ausmessen (z.B. kariertes Papier drüberlegen, ausschneiden, Quadrate auszählen). Untersuchungen mit Kontaktfolienabdrücken zeigten ein Kontaktmuster mit unregelmäßig großen Kontaktpunkten auf durchschnittlich etwa 18% (36 qcm) der Fläche, zwischen 5 und 35% schwankt je nach Fahrbahnbelag [Schramm 2002]. Die „wahre“ Kontaktfläche zwischen Reifen und Asphalt auf der mikroskopischen Ebene ist nochmals kleiner und liegt typisch bei etwa ein Prozent. Diese Punkte sind zudem unterschiedlich belastet, so dass ein »Druckgebirge« entsteht. Im dynamischen Fahrzustand können daher punktuell und momentan Drücke bis zu 45 bar auf einzelne Kontaktpunkte wirken.

Reibungsarten des verformbaren Luftreifens

Das »Bürstenmodell« vergleicht die elastischen Profilelemente des Reifens mit den Borsten einer Bürste. Beim Fahren werden diese durch den Geschwindigkeitsunterschied zwischen Karkasse und Straße unterschiedlich gestaucht, gedehnt und verschoben. Die Profilelemente im Reifenlatsch sind also gegeneinander verspannt: Druck und Zug wirken beim Verformen gleichzeitig, Gleit- und Haftreibung sind beteiligt. Daraus resultieren Quer- und Längsschlupf zwischen Reifen und Straße ebenso wie innerhalb des viskoelastischen Reifens. Dabei verbindet sich jedes Profilelement der Reifenaufstellfläche mit dem Untergrund auf zwei Arten:

Adhäsive Reibung

„Unterhalb einer Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro Sekunde wird die Reifenhaftung vorrangig durch die sogenannte wahre Kontaktfläche bestimmt“, erklärt Dr. Boris Lorenz. Winzige Kontaktpunkte wirken adhäsiv im Mikrobereich, insbesondere bei tieferen Temperaturen. Das Maximum adhäsiver Reibung wird also nur bei äußerster Langsamkeit erreicht, jedoch überwiegt diese Reibung auf trockener Fahrbahn. Die adhäsive Reibung steigt mit der Reifenaufstandsfläche und sinkt mit dem Aufstandsdruck.

Hysteresereibung

Bei Geschwindigkeiten ab einem Meter pro Sekunde sorgt die ungleichmäßige Verformung des viskoelastischen Gummis für die »Hysteresereibung«, man kann sich dies als Verzahnen der Oberflächenrauhigkeit im Makrobereich vorstellen, Eindringtiefe und Druck fördern sie [Schramm 2002]. Sie wirkt besonders auf rauem und feuchtem Untergrund, nachdem überstehendes Wasser durch das Reifenprofil abgeführt worden ist.

Wechselnde Belastungszustände

Das Fahrverhalten luftgefüllter Gummireifen lässt sich also mit adhäsiver und Hysteresereibung erklären, die Rollreibung ist dabei nebensächlich. Der »Belastungszustand« ändert sich jedoch durch Gas geben, bremsen, kuppeln, lenken sowie durch Straßenzustand und -verlauf:

  • freies Rollen
  • senkrechte Kraftübertragung
  • Bremsen & Beschleunigen
  • Kurvenfahren

Mit dem Wechsel zwischen den Belastungszuständen wechseln auch die Reibungseinflüsse:
Don’t touch the clutch!
Mit dem Entkuppeln wechselt das Fahrzeug in den Zustand des freien Rollens. Adhäsive- und Hysteresereibung spielen schlagartig keine Rolle mehr, Rollreibung wird nun zu 100% wirksam. Insbesondere im Gelände droht der Kontrollverlust.
Den Fahrbahnuntergrund wechseln
Solange der Reifenlatsch an der Fahrbahn haftet, staut sich der Reifengummi vor der Reifenaufstellfläche und wird durch das angetriebene Rad hinter der Reifenaufstellfläche gleichzeitig gedehnt. Diese Formänderung bewirkt einerseits einen Schlupf, ermöglicht jedoch andererseits die Kraftübertragung. Diese hängt vom Kraftschlussbeiwert ab, also vom Untergrund. Beim Wechsel des Fahrbahnuntergrundes, etwa von trocken auf nass oder von Asphalt auf Wiese, reißt die Kraftübertragung unvermittelt ab, da der Kraftschlussbeiwert zum Untergrund sich schlagartig ändert.

Offroad

Abseits ebener und harter Straßenbeläge wird die »reine« Physik vollends schmutzig. Wenn sich der Untergrund unter dem Reifen verformt, verbiegt sich auch die Theorie. Das Fahren auf einem plastischen Untergrund kann das 10-100fache des Rollwiderstandes betragen, den derselbe Untergrund hätte, wäre er hart [Heißing 2013]. Jeder Zentimeter Spurtiefe erfordert die Leistung einer 1%-Steigung mit entsprechendem Dieselverbrauch. Diese geländetypischen Reibungswiderstände entstehen durch

  • Verdichten des Untergrundes
  • Verdrängen des Erdkeils vor dem Reifen: »Bulldozing«
  • seitliche Reibung in den Spurrillen

Rollwiderstand und Reifendruck

Während auf festem Untergrund der Rollwiderstand mit zunehmendem Reifendruck sinkt, weil der Reifen sich dann weniger verformt, ist dies im Gelände umgekehrt. Der Rollwiderstand sinkt mit abnehmendem Reifendruck, denn:

  • Er vergrößert die Radaufstellfläche, da sich der verformbare Reifen dem unebenen Untergrund anschmiegt und verbessert damit den Kraftschluss.
  • Er übt geringeren Druck auf den Untergrund aus und mindert dadurch den Energieverlust durch Verdichtung.
  • Er mindert aus demselben Grund den Erdkeil vor dem Reifen sowie das Einsinken und senkt dadurch den Energieverlust durch Verdrängen und seitliche Spurrillenreibung.

Erfahrungen aus der Praxis:

  • Auf den nahezu ausschließlichen sandigen Pisten des Kgalakgadi-Transfrontierpark im südlichen Afrika empfehlen die Ranger durchgehend das Fahren mit 1,6 bar und maximale Geschwindigkeiten von 50 km/h. Das klappt hervorragend.
  • Auch bei pastösen Böden (dicker Schlamm) hilft das Absenken des Drucks; bei dünnem Schlick auf hartem Untergrund ist höherer Druck von Vorteil.
  • Auf hartem, unebenem Untergrund steigert ein vorsichtiges Luftablassen den Fahrkomfort, es fährt sich weicher. Der Reifen wird flexibler, federt harte Kanten ab, schiebt sich formend über scharfkantige Steine – immer langsames Fahren vorausgesetzt.
  • Schlauchlose Reifen sind von Vorteil, denn die Flankenverformung bei geringem Luftdruck zerstört den Schlauch.
  • Der Reifeninnendruck ist zu niedrig, wenn der Reifen Falten schlägt.
  • Er ist zu niedrig oder das Drehmoment zu hoch, wenn der Reifen auf der Felge wandert [Spreu 2015].

Experimentell ermittelte Werte

  • Der mittlere Kontaktflächendruck auf den Untergrund ist 25% höher als der Reifeninnendruck: 3 bar innen wirken also mit 4,25 bar auf den Untergrund; 1,5 bar innen wirken mit knapp 1,9 bar auf den Untergrund. Das Halbieren des Luftdrucks mindert also den Druck auf den Untergrund um mehr als die Hälfte!
  • Zugkraft, Reifeninnendruck und Schlupf: Bei 20% Schlupf betrug die Zugkraft rund 500 daN (1,8 bar), sie stieg mit sinkendem Druck auf knapp 600 daN (1,6 bar), über 700 daN (0,9 bar), über 800 daN (0,6 bar); alle Werte wurden experimentell im Gelände gemessen [DLG Merkblatt 356].
  • Vorfahrt und Schlupf: Ein Traktor auf dem Acker hat mit 0,8 bar Reifendruck eine Vorfahrt von 7 km/h, bei 1,6 bar Reifendruck sind es nur 5,88 km/h. Die Differenz geht in den Schlupf und frißt 10% mehr Diesel. Der geringere Luftdruck führt durch bessere Reifen-Boden-Verzahnung zu 20% Vorfahrtgewinn [Volk 2003].
  • Zugkraft, Reifeninnendruck und Achslast: Das Verringern des Luftdrucks erhöht die Zugkraft stärker als das Erhöhen der Achslast [Terranimo].
  • Obwohl der Druck auf den Untergrund sinkt, werden höhere Zugkräfte übertragen [DLG Merkblatt 356, Volk 2003].
  • Die effektive Reifenaufstellfläche ist bei gleich abgesenktem Innendruck auf unebenem Untergrund größer als auf ebener Fahrbahn.
  • Halbierter Luftdruck im Reifen (von 1,6 auf 0,8 bar) verdoppelt die Aufstandsfläche (von 2048 auf 4190 cm2), wie praktische Versuche an einem Landwirtschaftsreifen ergaben.
  • Radialreifen haben bei verringertem Druck eine größere Reifenaufstandsfläche als Diagonalreifen; der Reifenlatsch verlängert sich.
  • Standard-, Breit-und Zwillingsbereifung reduzieren – in dieser Reihe zunehmend – den Kontaktflächendruck, also sinken die Reifen weniger ein.
    Bei geringem Reifeninnendruck liegt die Aufstandsfläche des Breitreifens nicht mehr plan auf, sondern wölbt sich zum Reifen hin, während an der Außenschulter des Reifens der Druck auf den Untergrund steigt [Klempau 2003].
    Der Flächendruck ist gleich für einen breiten Radialreifen mit 0,6 bar und Zwillinge mit 1,6 bar.
    Beim Verteilen der Radlast auf Doppel- oder Zwillingsräder wird die Aufstandsfläche zwar nicht verdoppelt, jedoch erheblich vergrößert.
    Nachteilig ist, dass sich zwischen den Reifen Fremdkörper verkeilen können.
    Unvermeidbar ist, dass nur einer der Zwillingsreifen in der Spur des Vorderreifens läuft, also verbreitert der zweite Zwillingsreifen die Spur. Dennoch überwiegt der höhere Kraftschluss den höheren Rollwiderstand deutlich.
  • Baustellenfahrzeuge sind sowohl für die Straße als auch fürs Gelände bereift; insbesondere hier trifft man auf Zwillingsbereifung und Reifengrößen von 17,5“ bis 22,5“ mit hohem Reifendruck von etwa 8-9 bar.
  • Ackerschlepper dürfen die Böden weder verdichten noch die Oberfläche aufreißen. Sie fahren daher mit 0,5 bis 0,8 bar auf den angetriebenen Reifen; zur besseren Kraftübertragung werden die Reifen ballastiert, man rechnet mit 50 kg/kW. Die typisch unebenen Reifenaufstandsflächen erfordern hohe Flanken, etwa 520/85 R 38. Für den anteilmäßig geringen Straßenbetrieb wird der Reifendruck vorübergehend auf 1,6 bar erhöht.

Radlast, Druck und Aufstellfläche

Die Radlast wird überwiegend (typisch sind etwa 85%) von der Luft im Reifen getragen; der verbleibende Lastanteil der Karkasse hängt von deren Steifigkeit ab.
Die Traglast des Reifens steigt mit dem Innendruck, mit dessen Aufstellfläche und der Einfederungsstrecke sowie mit der Steifigkeit der Karkasse. Bei dynamischer Belastung übernehmen die reversible Kompression der Luft und die elastische Formänderung des Reifens zwei Lastkomponenten, so dass der Reifen sich physikalisch wie eine Feder verhält.
Etwa 0,01 % der Radlast wirken als Walkwiderstand; dieser macht etwa 80% des gesamten Rollwiderstandes aus.
Die Latschfläche vergrößert sich mit der Radlast.
Eine geringere Fahrzeugmasse ist vorteilhaft auf Sand und Morast, denn nachgiebige Untergründe werden weniger verformt; das Fahrzeug sinkt geringer ein, die Flankenreibung sinkt und der Erdkeil vor dem Reifen wird kleiner.
Ein höheres Gewicht auf den angetriebenen Rädern verbessert die Verzahnung auf den Untergrund etwa bei dünnem Schlamm, senkt den Schlupf und mindert das Aquaplaning.

Typisch fürs Gelände sind die dynamischen vertikalen Radlastschwankungen. Die Eigenfrequenz des gesamten Radsystems liegt zwischen 10 und 15 Hz. Ein Wellblechuntergrund, dessen Unebenheiten mindestens so groß sind wie die Latschlänge des Reifens, führt bei entsprechender Geschwindigkeit zu Resonanzschwingungen; kleinere Unebenheiten werden geschluckt. Das Verändern der Latschlänge über den Reifeninnendruck ermöglicht daher auch das Vermeiden von Resonanzen auf Wellblech.

Formschluss und Verzahnung

Wenn die kraftschlüssige Übertragung ausgeschöpft ist, schlägt die Stunde für Spikes, (Schnee-)ketten, Stollenreifen, Sandbleche … Sie verzahnen sich mit dem Untergrund, für die dann formschlüssige Verbindung gibt es keine prinzipielle Obergrenze für die übertragbare Kraft. Eine Zahnradbahn zeigt anschaulich, wie die Hebelkräfte vom Zahnrad, das in eine Zahnstange greift, auf den Untergrund übertragen werden. Reibungskräfte sind dabei vernachlässigbar. Dass sich Fahrzeuge auf unseren Straßen verzahnen sehen die Straßenbauer allerdings nicht so gerne, dort sollten Reibungskräfte genügen.

Kampfpanzer verzahnen sich mit Panzerketten im Untergrund; KAT I Radfahrzeuge sollen fähig sein, ihnen im Gelände zu folgen, müssen jedoch auch Straßenlaufeigenschaften haben, hier überwiegt 14R20 bis 16R20. Radpanzer passen den Reifendruck mittels Reifendruckanlagen an; auch für bestimmte geländegängige Feuerwehrfahrzeuge sind solche Anlagen vorgeschrieben.

Welche Reifen?

Der Nutzen breiterer Reifen ist umstritten. Heutige Reifen tragen die Fahrzeugmasse über das Luftpolster, nicht über die Reifenflanken. Die Reifenaufstandsfläche bleibt bei unveränderter Last also gleich, unabhängig von den Dimensionen des Reifens. Damit sich die gleiche Fläche ergibt, muss ein schmaler Reifen jedoch stärker zusammengedrückt werden als ein breiter Reifen. Im dynamischen Zustand wird der schmale Reifen dementsprechend stärker walken, wird also wärmer. Bei geringen Geschwindigkeiten, also Offroad, spielt das aber keine Rolle.

Zwei Faktoren wirken sicher in den meisten Geländesituationen positiv auf die Kraftübertragung: die Anzahl angetriebener Räder und größere Räder. Größere Räder verbessern die Geländegängigkeit allerdings gleich mehrfach, denn sie gleichen unebenen Untergrund aus, erhöhen die Bodenfreiheit und die Wattiefe. Allerdings verlangen größere Räder antriebsseitig auch ein höheres Drehmoment. Ist das nicht verfügbar, können die größeren Reifen nachteilig sein, etwa an Steigungen.

Es gibt keine definierten Kennzahlen speziell für Geländereifen. Wohl gilt seit 2012 mit der Verordnung EG 1222/2009 eine Kennzeichnungspflicht für Neureifen (Pkw, Transporter, Lkw), nämlich das »EU-Reifenlabel« mit den Kategorien:

  1. Rollwiderstand als Maß für den Kraftstoffverbrauch
  2. Nasshaftung als Maß für die Bremsperformance und
  3. Dezibel als Maß für die Geräuschentwicklung.

Diese Verordnung gilt nicht für

  • runderneuerte Reifen
  • Reifen ohne Straßenzulassung
  • Rennreifen
  • Notradreifen
  • Oldtimerreifen
  • Professionelle Off-Road-Reifen POR

Professionelle Off-Road-Reifen POR

POR sind speziell auf eine außergewöhnliche Haftungsleistung bei schlechten Bedingungen und jeder Fahrbahnbeschaffenheit ausgelegt und haben naturgemäß einen geringeren Speedindex als andere Reifen. Sie dürfen also nicht gefahren werden, wenn laut Fahrzeugschein ein höherer Speedindex vorgeschrieben ist.
Laut StVO dürfen diese Reifen dennoch gefahren werden, wenn sie mit M&S oder Schneeflockensymbol gekennzeichnet sind und der dafür vorgesehene M&S-Aufkleber genutzt wird. Das M&S-Symbol ist jedoch weder geschützt noch definiert. Insbesondere bei Importreifen ist es nicht aussagekräftig; geschützt ist dagegen das Schneeflockensymbol. Dieses wird von der amerikanischen Straßenbehörde vergeben für Reifen mit einer gegenüber Referenzreifen um 7 % besseren Traktion auf Schnee und Eis.
Nun haben aber viele POR-Reifen keine M&S-Kennzeichnung. Nach der Verordnung EU 458/2011 (nicht aber nach StVO) dürfen Reifen ohne M&S-Kennzeichnung und mit zu niedrigem Speedindex gefahren werden, wenn ein entsprechender POR-Aufkleber an der Windschutzscheibe angebracht ist.

Lkw-Reifen

Lkw-Reifen gibt es für Antriebs-, Lenk- und Anhängerachsen sowie für Bus- & Fernverkehr, Baustellen … Dies sind aber keine definierten Kategorien, damit preisen Hersteller lediglich bildhaft die Nutzung an. Solche Reifen finden sich in den Kategorien MPT, C (Commercial), LT (Light Truck, LLkw). Die FH Kiel verglich 2013 AS-Reifen für die Landwirtschaft mit Industriereifen, die TU München folgte 2015; beide befanden für Industriereifen:

  • rund 10% geringerer Verbrauch bei Straßenfahrt
  • etwa dreifach längere Nutzungsdauer
  • Fahrverhalten: ruhiger, stabiler Lauf, kurze Bremswege

»Stollenreifen« beeindrucken durch Aussehen. Sie beeindrucken auch im Schnee, im Schlamm und auf nassen Wiesen. Reisende beurteilen allerdings den Einsatz im realen Mix von Straße und Gelände sehr skeptisch,Abseitsreisen schreibt: »Stollenreifen für Lastwagen werden außerhalb von Europa normalerweise nicht geführt, außer reine AS Ackerprofile für Traktoren, die sich nun wirklich keiner antun möchte. Einzig auf Militär- und Feuerwehrfahrzeugen entdeckt man gelegentlich MPT-Geländereifen, diese werden jedoch meist ausschließlich für die Behörden importiert und man kommt als Privatperson nicht an die Reifen. Wir fahren mit der Reifengröße 12,5 R20 bzw. 335/80 R20. Realistisch betrachtet ist das ein absolutes Desaster für eine Langzeitreise durch mehrere Kontinente.«

Schlussbetrachtung

Kaufen ist ein emotionaler Vorgang, bei dem sich der Verstand oft vergeblich an einer Kosten-Nutzen-Analyse abarbeitet, während gleichzeitig an ihm vorbei bereits alles aus dem Bauch heraus entschieden wird. Auch das »haben-wollen« hat weniger mit Argumenten als mit Image zu tun. Beim Reifenkauf scheint das nicht viel anders zu sein.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Sachverhalt besonders schwierig ist (ein komplexer Prozeß, multifaktoriell und so …). Zudem ist er sachlich kaum erschließbar:

  1. Systematische Tests für das Fahren im Gelände mit Messwerten und Auswertungen sind nahezu ausschließlich in der agrar- und forstwirtschaftlichen Fachliteratur veröffentlicht.
  2. Die Fachwissenschaft rund um die Dynamik der Kraftfahrzeuge beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit dem Fahren auf der Straße.
  3. Es gibt keine Lobby der Fernreisemobilisten, die deren Interessen formuliert, relevantes Wissen sichtet und sichert.
  4. Reifenhersteller und –verkäufer, Softroader und Asphalt-Cowboys bestimmen die Melodie.

Zu verschieden sind also die Bedürfnisse und Anforderungen der Nutzergruppen, zu fokussiert die Forschungsergebnisse und zu vereinfacht wissenschaftliche Modelle.
Reifenhersteller müssen Reifen verkaufen. Da ist es nur folgerichtig, wenn Geländereifen an erster Stelle beworben werden mit »Grip, Abenteuer, Fahrvergnügen.« Widerstandsfähigkeit wird beschrieben als »Mühelos die Hürden des Stadtverkehrs meistern«. Fakten folgen eher illustrativ: Breite Profilblöcke, Sehr hoher Negativprofilanteil 50 %, Starke Profiltiefe 13 bis 17 mm, Aufbau und Seitenwände verstärkt … Wenn »Geländereifen« so super fürs Gelände sind, wirft das drei Fragen auf:

  1. Wieso sind sie dann auf Asphalt so widerstandsfähig?
  2. Warum werden sie nicht dort und von denen gefahren, wo anspruchsvolles Gelände den Alltag prägt?
  3. Wie relevant sind die Aussagen der Reifenhersteller bezüglich Pkw-Geländereifen für all jene, die im Gelände darauf angewiesen sind?

Die Suche nach der perfekten Reifenlösung frißt Zeit, Nerven und Geld, ohne dass eine Antwort klarer wird. Ressourcenschonender ist es, den Standpunkt zu wechseln, solche Standpunkte könnten sein:

  • Gerade bei monate- und jahrelangen Reisen ist der Geländeanteil klein gegenüber dem Straßenanteil. Die Auswahl der Reifen sollte dementsprechend gewichtet werden. Der Geländeanteil ist um so höher zu gewichten, je ausgesetzter und abgelegener die Fahrstrecken sind.
  • 80%-Lösungen sind genug.
  • Vor der Reise möchte man in erster Linie Sicherheit kaufen, also Verantwortung abgeben. Doch erstens funktioniert das nicht und zweitens verändert sich beim Reisen die Wahrnehmung von Risiken; die werden immer kleiner, so wie der Scheinriese Tur-Tur.
  • Probleme lassen sich am besten dann lösen, wenn sie da sind.
  • Gute Reifen sollen die Traktion verbessern, mehr Motorleistung auf der Fahrbahnoberfläche in Vortrieb umzusetzen. Das möchten Rennfahrer auch und deren Reifen sind fürs Gelände ungeeignet.
  • Gute Reifen können gefährlich sein. Allradantrieb und »gute« Reifen vermitteln ein Gefühl erhöhter Fahrsicherheit, verleiten aber auch zu höheren Geschwindigkeiten im Gelände. Das Bremsverhalten wird jedoch nicht besser, während das Fahrverhalten in Kurven sich durch das gesperrte Differential verschlechtert. Das Ausbrechen aus der Kurve bei zu hoher Geschwindigkeit wird so zu einer der häufigsten Unfallursachen.
  • Gute Reifen gleichen schlechtes Fahrverhalten nicht aus. Geländefahrten sind nicht berechenbar. Im Gelände sind Singularitäten die Regel, das Unvorhersehbare und Plötzliche ist normal.

Quellen

Alle Fotos von Norbert Lüdtke und Sonja Roschy.
Zusammenhänge wurden in Textform dargestellt, auf Formeln wurde bewußt verzichtet. Zu oft finden sich in der Fachliteratur Hinweise wie: … gilt nur unter bestimmten Rahmenbedingungen … gilt unter der Annahme dass … gilt nur im Bereich von-bis … lässt sich nicht berechnen … Koeffizienten wurden empirisch ermittelt …

  • Horst Bauer (Hrsg.): Kraftfahrtechnisches Taschenbuch. Robert Bosch GmbH. Vieweg Wiesbaden 2003
  • Hans-Hermann Braess, Ulrich Seiffert: Handbuch Kraftfahrzeugtechnik. Vieweg Wiesbaden 2005
  • Bert Breuer, Karlheinz H. Bill (Hrsg.): Bremsenhandbuch. Vieweg Wiesbaden 2003
  • Bernd Heißing, M. Ersoy, St. Gies: Fahrwerkhandbuch: Grundlagen, Fahrdynamik, Komponenten, Systeme, … Springer 2013
  • Erich Hoepke, Stefan Breuer: Nutzfahrzeugtechnik: Grundlagen, Systeme, Komponenten. Springer 2016
  • S. Huschek: Kennzeichnung der Oberflächenrauheit und deren Einfluß auf die Griffigkeit und die Reifengeräusche. Fahrzeug und Fahrbahn, FGSV-Tagung Karlsruhe 10. & 11.10.1995
  • Frank Klempau: Untersuchungen zum Aufbau eines Reibwertvorhersagesystems im fahrenden Fahrzeug. Diss. Darmstadt 2003
  • Horst Kuchling: Taschenbuch der Physik. VEB Leipzig 1986
  • G. Kühn: Der gleislose Erdbau. Berlin Springer 1956
  • Ulli Kulke: Als die ganze Welt ins Rollen geriet. Die Welt 08.01.2013.
  • B. Lorenz, Persson BN, Fortunato G, Giustiniano M, Baldoni F. J: Rubber friction for tire tread compound on road surfaces. Phys Condens Matter. 2013 Mar 6; 25(9):095007 (published online 2013 Jan 18) zit. nach:
  • Manfred Mitschke, Henning Wallentowitz: Dynamik der Kraftfahrzeuge Springer 2013
  • Ernst Joachim Schramm: Reibung von Elastomeren auf rauen Oberflächen und Beschreibung von Nassbremseigenschaften von Pkw-Reifen. Diss. Regensburg 2002,
  • H. Schulz u.a.: Landwirtschaftliche Fahrzeuge und Krane, Berlin 1987
  • Albert Spreu: Der richtige Luftdruck macht’s. Bauernblatt 11. April 2015 36-37
  • Terranimo: Kontaktfläche, Kontaktdruck und theoretische Bodenverdichtung http://terranimo.ch/expert/
  • Ludwig Volk, Kirsten Schnapp, FH Südwestfalen, Agrarwirtschaft Soest: Richtige Reifenwahl ist praktizierter Bodenschutz. Flexible Bereifung. MAIS 4/2003 (31. Jg.)
  • www4.fh-swf.de/media/downloads/fbaw_1/reifenregler/pdfs/veroeffentlichungen_3\/Richtige_Reifenwahl_ist_praktizierter_Bodenschutz.pdf
wiki/raeder.1529588299.txt.gz · Zuletzt geändert: 2019/12/07 15:16 (Externe Bearbeitung)

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