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Pilger

Die Antike kannte den Pilgerbegriff nicht; er entstand nicht ganz einfach aus peregrinus, dem fremden Ankömmling in Rom, jedoch blieb er in allen seinen Formen ein Fußreisender und äußerlich ein Einzelner, diesem jedoch wesensfremd. Das christliche Pilgerwesen zu Heiligen Orten löste im frühen Mittelalter die Orakelfahrten zu antiken Opferstätten ab, etwa als Peregrinatio in terram sanctam und verschob sich im 11. Jahrhundert über die Jakobswege nach Santiago de Compostela, also ans damalige ans Ende der Welt, das Cap Finisterra. Im 14. Jahrhundert wurden die Jubeljahre erfunden, also Romfahrten per pedes apostolorum zu den Apostelgräbern, etwa auf der Via Francigena von Canterbury nach Rom.

»Ach Fremde, du bist wahrlich hart; du bist sehr schwer, das sage ich dir in Wahrheit.
Mit Mühsal leben, die der Heimat entbehren. Ich habe es an mir erprobt:
Ich fand nichts Liebes in dir, ich fand in dir nichts als Jammer und 
ein schmerzerfülltes Herz und vielfältige Trauer.«
Otfrieds Evangelienbuch 

Helena, Mutter des römischen Kaisers Konstantin, reiste 326 nach Palästina und wurde zum Vorbild der entstehenden Pilgerbewegung — es waren meist Frauen, die in den nächsten Jahrhunderten pilgerten. Die Wanderungen Jesu nachvollziehend, wurden dessen unsichtbare Spuren zum Objekt der Anbetung: . »Lasset uns beten an den Stellen, wo sein Fuß gestanden hat.«

Bereits in der griechisch-römischen Antike war ein Philosoph kaum anders als wandernd vorstellbar. Strabon (griechischer Historiker und Geograph, 63 v. - 23 n. Chr.) fand die, die nach dem Sinn des Lebens suchen, in jenen, die die Berge durchstreiften: Wandermönche, Wanderpoeten, Wandercharismatiker. Erst im 6. Jahrhundert verpflichtete die sogenannte Benediktinerregel die Mönche zur Seßhaftigkeit, zur stabilitas loci. Entvölkert wurden die Straßen dadurch nicht, sorgten doch Scholaren nach den Universitätsgründungen des 12. und 13. Jahrhunderts für weltlichen Nachwuchs. In den Liedern der Carmina Burana spiegelt sich der Geist der gelehrten, doch armen Vaganten, denen sich im nachfolgenden Humanismus die Bacchanten, fahrende Schüler mit schlechtem Ruf, zugesellten, und denen Goethe mit dem Mephistopheles ein Denkmal setzte.

Im Itinerarium Burdigalense, dem ältesten bekannten Pilgerführer (333 n. Chr.), wird die Reise von Bordeaux nach Jerusalem über Toulouse, Narbonne, Mailand, Padua, Belgrad, Sofia, Adrianopel, Konstantinopel, durch Syrien nach Palästina, beschrieben. Neben Jerusalem und Rom entstanden weitere Ziele: Santiago de Compostela, Canterbury, Einsiedeln, die Heilige Linde, Lourdes. Das Reisegepäck der Pilger war übersichtlich: Waffenlos und barfuß im einfachen Gewand mit breitkrempigem Hut, Umhängetasche, Pilgerstab und dem Kürbis als Wasserflasche wanderten die Pilger; warme Bäder und weiche Betten sollten gemieden, Haare und Fingernägel durften nicht geschnitten werden. Als Ziel für Überfälle waren Pilger wenig attraktiv.

Mit Bischof Gunther von Bamberg zogen 1064/65 n. Chr. 1064/65 n. Chr. 7000 Pilger ins Heilige Land, auch Peter dem Einsiedler folgten im Jahre 1096 Tausende. Diese Massenbewegungen gingen den Kreuzzüge als bewaffneten Wallfahrten voraus. Kreuzfahrern versprach Bernhard von Clairvaux die gleichen Verdienste für das Jenseits, die auch für einfache Pilger galten. Höhepunkt der Bewegung war das vom Papst erstmals 1300 ausgerufene Heilige Jahr. 20.000 Pilger besuchten Rom, etwa so viele wie die Stadt Einwohner hatte. Im Spätmittelalter wurde Santiago de Compostela als Pilgerziel bedeutender als Rom. Hunderttausende zogen Jahr für Jahr dorthin, auf etwa 2500 schlechten Wegkilometern quer durch Mittel- und Westeuropa. Man erkannte sich an der Jakobsmuschel, an Umhang (Pelerine) und Wanderstab; Jakobsbrüderschaften waren überall anzutreffen. Hospitale, Herbergen und Klöster boten Unterkunft, den Weg säumten kleinere Heiligtümer.

Die religiöse Einsicht, daß im Leben alles vorübergeht, es keinen bleibenden Wert gibt, will der wandernde Pilger in der Fußreise erfahren. Er geht an allem vorbei, mißt den Dingen keinen Wert zu, ist besitzlos, heimatlos, bindungslos. Aus dem lateinischen peregrinus für den Fremden von außerhalb Roms wurde das deutsche Wort Pilger 1). Verloren in der Fremde, muß er sich selbst genug sein. Äußerer Weg und Ziel bleiben symbolisch – die unerfüllbare Sehnsucht nach einem inneren Ziel erfordert ewiges Pilgern, der homo viator ist auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, schöpft Stärke aus Hoffnung. Langsam nur, Schritt für Schritt auf einer langen Fußreise, ist das erfahrbar. Andere Pilgerarten gelten als weniger verdienstvoll, der Erfolg ist unsicher, Gottes Lohn geringer. Norbert von Xanten (1085-1134), Pilger und Wanderprediger, forderte »auf der Erde zu leben und nichts von der Erde zu wollen«. Er war zeitlebens unterwegs, fühlte sich in die Fremde getrieben und akzeptierte sein Leben als Schicksal.

Bereits das Alte Testament erwähnt den Pilger (Ps. 39,13), in Judentum, Buddhismus, Christentum und Islam wird gepilgert. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.“ (Mat. 8,20) Heimatloses Sein und zeitloses Wandern als Prinzip des Menschseins stellte Jesus der Seßhaftigkeit gegenüber – Ideale von Nomaden? Die Umstände des fußreisenden Pilgers erforderten Bescheidenheit im Reisegepäck: ein breitkrempiger Hut schützte gegen Sonne, Regen und Kälte, ein weiter Umhang diente nachts als Decke, das Leibgewand gegürtet, eine Umhängetasche enthielt Messer, Lederbecher, Feuerstein und Schwamm, ein Netz für Fisch- und Vogelfang, Empfehlungsschreiben, etwas Geld. Ein ausgehöhlter Kürbis oder ein Lederschlauch fassten den Wasservorrat; Brot, Käse, Nüsse verhüteten den ärgsten Hunger. Die Pilgerreise als Kniefall der Seßhaften vor dem ursprünglichen Leben, dem noch kaum entfremdeten, natürlichen Dasein? Spiritualität, Suche nach Erfüllung und Gottesnähe, Askese und Armut - immer wieder finden sich diese Aspekte in Berichten der Pilger und Wandermönche: Fremdling sein und Gast auf Erden. Tugenden, die seit je mit dem Nomadentum verbunden sind. Die seßhafte Jahreszeit der Nomaden war erzwungen durch saisonalen Mangel an Wasser, Futter, Reisemöglichkeiten. Aus der Not wurde Tugend, aus Hunger eine Fastenzeit, die festlich abschloß. Fasten und feiern wurde auch an den heiligen Stätten, in Mekka und Jerusalem, von den Pilgern gefordert. Eines war wie das andere Pflicht.

Wer wandert, lernt das Nötige schätzen und ist bereit, Überflüssiges loszulassen.

„Die Wüstenvölker sind dem Gutsein näher als seßhafte Völker, 
weil sie dem Urzustand näher sind und ferner von den üblen Gewohnheiten, 
die die Herzen der Seßhaften verdorben haben.“
''Ibn Chaldun'', 1332-1406, zit. n. Chatwin

Die Pilgerfahrt als Reinigung, Katharsis, das heißt, das Land von Ungeheuern befreien. Wer ins Unbekannte aufbricht, befreit den bereisten Raum von der Angst vor dem Unbekannten, von imaginären Ungeheuern, selbstgeschaffenen. Wer das Land von Ungeheuern befreit, befreit auch sich, verliert die Ängste. Darin findet sich ein immer wiederkehrender Topos des Reisens: Lösen der Bindungen, Aufbruch ins Unbekannte, Konfrontation mit Angst, Sieg über die Angst, Rückkehr, Weitergabe des Wissens. Der Topos des Abenteuers enthält Elemente des Pilgertums, ersetzt jedoch die Demut durch das Ego, macht den Einzelnen zum Idol.

Am Adam’s Peak auf Ceylon wird den Pilgern ein heiliger Fußabdruck gezeigt, für die Christen ist es der Fuß Adams, für andere der Fuß Buddhas oder Shiwas. Verdienste für das Jenseits erwirbt, wer auf den Spuren der Religionsstifter wandelt, nach Mekka, Medina, Gom, Jerusalem, zum Kailash. Die Fußreise wurde religiös verbrämt zum Mittel schwärmerischer Bewegungen und zeitweise als »Laufsucht« abgetan, als »currendi libido«. Noch heute messen tibetische Pilger den zurückgelegten Weg mit ihrem Körper ab. Sie fallen auf die Knie, strecken sich lang am Boden aus und gehen nach dem Aufstehen soweit, wie der Körper zuvor den Boden bedeckte, um dann erneut eine Körperlänge abzumessen. Mit dem Körper die Strecke, mit der Tagesreise die Dauer großer Reisen messend — darin offenbart sich Demut, der Pilger respektiert die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Er versucht nicht, äußere Grenzen zu überschreiten, sie durch Technik und Training zu überlisten. Das bleibt seinem Zeitgenossen, dem Boten, vorbehalten, und seinem Nachfolger, dem Bergsteiger. So opfert der Pilger sein kostbarstes Gut, einen Teil seiner Lebenszeit.

In jener Hochzeit des Glaubens verlangte die Kirche mit ihrem »Vita mutandur, non tollitur«, (Das Leben ändert sich, aber es endet nicht) nach der Kunst, gut zu sterben. Der Tod selbst schreckte nicht und Pilgerreisen waren oft Reisen von Alten und Kranken, um an einem besonderen Ort zu sterben und auf dem beschwerlichen Weg dorthin einen letzten Verdienst für das Jenseits zu erwandern. Mit der Pest kam der Schrecken vor dem Ende, einem qualvollen Tod durch tagelanges Ersticken, und vor einer schwärzlich verfärbten Leiche mit aufgeplatzten Pestbeulen. Bei der Epidemie von 1347 starb ein Drittel der 36 Millionen West- und Mitteleuropäer. Keine Familie blieb verschont, Orte wurden entvölkert, Gebiete verödeten, betroffen waren Reich und Arm, der Tod wirkte als großer Gleichmacher. Wer überlebte suchte Trost im Leben. Die Anziehungskraft des Glaubens verblaßte, die Moderne erschien am Horizont.

1510 pilgerte Luther 1.300 km nach Rom in sechs Wochen, doch Pilgern ist nicht mehr »in«. 1786 begegnete Goethe bei Padua zwei Pilgern »hier ganz eigentlich am Platze«, doch schienen sie ihm befremdend, waren es doch die ersten, die er in der Nähe sah. Im Gespräch beklagten sie, allerorts wie Landstreicher behandelt zu werden. Das Pilgerwesen geriet aus der Zeit. Kostenlose Pilgereinrichtungen wurden von Fahrenden, Vaganten und Vagabunden genutzt, richtigen Pilgern wurde mißtraut. Italien, das Arkadien der Romantik, wurde dem Bürgertum zum Ziel weltlicher Pilgerreisen. Nicht mehr der Glaube an eine jenseitige Welt, sondern das diesseitige Schöne verführten zum Reisen. Andächtig betrachtet wurden Kunst, Architektur, Statuen; ein ganz bestimmtes Rombild wurde gesucht, dem die »Heilige Stadt« nur Rahmen war.

  • Ursula Ganz-Blättler
    Andacht und Abenteuer.
    Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger 1320-1520
    Gunter Narr Verlag, 1990
  • Carl Gustav Carus
    Pilger im Felsental
    nach 1828/30 (Öl auf Leinwand, 28×22 cm Nationalgalerie Berlin)
  • um 1870 Russischer Photograph

Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? Keine Zeit! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im 19. Jahrhundert blieb nur noch Spott:

Ach! Da schaun sich traurig an
Pilgerin und Pilgersmann.

Wilheim Busch
1)
Teodor Puszcz
Das liturgische Gebet für Reisende und Pilger sowie Seefahrer:
Ein Überblick bis zur Tridentinischen Liturgiereform
LIT Verlag Münster, 2019. - Einleitend bis etwa Seite 30 ausführliche Darlegungen der Begrifflichkeiten rund um Pilgern und Wallfahren in der Geschichte, auch griechisch, lateinisch, hebräisch: apodemein und ekdemein, peregrinatio (religiosa), peregrinus und peregrinari, hostis und xenos, pauperus und ptochos, hospitium und xenodochium; Itinerarien und Pilgerliteratur, Pilgerwege, Pilgerausrüstung
wiki/pilger.1638038728.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/11/27 18:45 von norbert

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