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wiki:fussreisen

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wiki:fussreisen [2021/11/27 16:47] – [Pilgerfahrten] norbertwiki:fussreisen [2024/03/17 04:58] (aktuell) norbert
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 ===== Jäger und Sammler - Immer unterwegs ===== ===== Jäger und Sammler - Immer unterwegs =====
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 Die Veränderung des [[wiki:klima|Klimas]] rang dem afrikanischen Urwald trockene und weite Savannen ab. Südlich der [[wiki:sahara|Sahara]] durchstreiften sie Gruppen von 25-50 Frühmenschen auf der Suche nach Wasser und Nahrung, [[wiki:tiere|Tiere]] jagend, vor Raubtieren flüchtend, immer in Bewegung. Das karge Angebot auf einer Fläche von zwei mal zwei Kilometern ernährte gerade eine Person mit Obst und Wurzeln, Aasresten, erjagtem Fleisch. Ohne Milchviehhaltung wurden ihre Kinder 4-5 Jahre gestillt. Dabei legten sie etwa 5.000 Kilometer zurück, immer im Rhythmus des Gehens, an der Brust der Mutter oder auf ihrem Rücken. Diese Situation prägt das menschliche Verhalten bis heute. Babies schreien nicht, solange sie getragen und etwa fünfzig Mal pro Minute bewegt werden. Dieser Rhythmus läßt sich auch künstlich erzeugen und bewirkt gleiches: nur das liegengebliebene, vergessene Baby schreit - Bewegung ist richtig. Die Veränderung des [[wiki:klima|Klimas]] rang dem afrikanischen Urwald trockene und weite Savannen ab. Südlich der [[wiki:sahara|Sahara]] durchstreiften sie Gruppen von 25-50 Frühmenschen auf der Suche nach Wasser und Nahrung, [[wiki:tiere|Tiere]] jagend, vor Raubtieren flüchtend, immer in Bewegung. Das karge Angebot auf einer Fläche von zwei mal zwei Kilometern ernährte gerade eine Person mit Obst und Wurzeln, Aasresten, erjagtem Fleisch. Ohne Milchviehhaltung wurden ihre Kinder 4-5 Jahre gestillt. Dabei legten sie etwa 5.000 Kilometer zurück, immer im Rhythmus des Gehens, an der Brust der Mutter oder auf ihrem Rücken. Diese Situation prägt das menschliche Verhalten bis heute. Babies schreien nicht, solange sie getragen und etwa fünfzig Mal pro Minute bewegt werden. Dieser Rhythmus läßt sich auch künstlich erzeugen und bewirkt gleiches: nur das liegengebliebene, vergessene Baby schreit - Bewegung ist richtig.
  
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 Das geruhsame Wandern in sich langsam verlagernden Territorien war kaum jemals eine richtige Reise, Ziele lagen meist nah. Es mag 80.000 Jahre gedauert haben, bis „moderne“ Menschen den Weg von [[wiki:routen_in_afrika|Afrika]] nach [[wiki:routen_in_amerika|Amerika]] über Land zurückgelegt haben, der mit vielfachen Kreuz- und Querwegen vielleicht 40.000 Kilometer betrug. Die „Eroberung“ der Erde erfolgte jedenfalls zu Fuß. Sprachvergleiche, Gen- und Mitochondrienanalysen führen allesamt zu ähnlichen Ergebnissen: eine kleine Gruppe verließ vor etwa 100.000 Jahren Afrika über die Landenge von Suez, von Vorderasien gelangten Menschen schon früh nach [[wiki:europa|Europa]], vor 40.000 Jahren wurde [[wiki:routen_in_australien|Australien]] erreicht, Amerika in verschiedenen Wellen vor etwa 10-20.000 Jahren, vereinzelt vor 30 bis 40.000 Jahren. Die langsame Wanderung täuscht durch ihre Durchschnittlichkeit, da auf Perioden schneller Wanderung, bedingt durch Bevölkerungsdruck, klimatische und geographische Gelegenheiten, Perioden der Stagnation folgten, bedingt durch eine günstige Umwelt. Warum eine Gegend verlassen, in der es alles gibt? Das geruhsame Wandern in sich langsam verlagernden Territorien war kaum jemals eine richtige Reise, Ziele lagen meist nah. Es mag 80.000 Jahre gedauert haben, bis „moderne“ Menschen den Weg von [[wiki:routen_in_afrika|Afrika]] nach [[wiki:routen_in_amerika|Amerika]] über Land zurückgelegt haben, der mit vielfachen Kreuz- und Querwegen vielleicht 40.000 Kilometer betrug. Die „Eroberung“ der Erde erfolgte jedenfalls zu Fuß. Sprachvergleiche, Gen- und Mitochondrienanalysen führen allesamt zu ähnlichen Ergebnissen: eine kleine Gruppe verließ vor etwa 100.000 Jahren Afrika über die Landenge von Suez, von Vorderasien gelangten Menschen schon früh nach [[wiki:europa|Europa]], vor 40.000 Jahren wurde [[wiki:routen_in_australien|Australien]] erreicht, Amerika in verschiedenen Wellen vor etwa 10-20.000 Jahren, vereinzelt vor 30 bis 40.000 Jahren. Die langsame Wanderung täuscht durch ihre Durchschnittlichkeit, da auf Perioden schneller Wanderung, bedingt durch Bevölkerungsdruck, klimatische und geographische Gelegenheiten, Perioden der Stagnation folgten, bedingt durch eine günstige Umwelt. Warum eine Gegend verlassen, in der es alles gibt?
  
-Die frühen Wanderer schätzten sichere Wege: entlang der Flüsse, in [[wiki:klima|Klimazonen]] mit regelmäßigen Regenfällen und nicht zu kalten Wintern, mit Rückzugsmöglichkeiten in Höhlen oder auf Bäume. Wüsten, Gebirge, vereiste Gegenden erforderten einen hohen Aufwand: Bekleidung, Transportmittel für Wasser und [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] , die Technik des [[wiki:lagerfeuer|Feuermachens]], Schutz gegen Kälte und Sturm waren nötig. Der Druck zur Wanderung mußte schon außergewöhnlich stark sein, um sich solchen Bedingungen auszusetzen. Zogen sich einzelne Gruppen in Nischen, in Täler, auf Almen, auf Inseln, in Oasen zurück, riskierten sie ihre Existenz. Ein einziges kaltes Jahr, ein einzige ausgefallene Regenzeit bedeutete ihr Ende. Der Abstand zu anderen Gruppen durfte nie zu groß werden: wer zu schnell war, begab sich in die soziale Isolation, förderte Krankheit durch Inzucht. Das erforderte den Kontakt zu weiteren 20-30 Gruppen.+Die frühen Wanderer schätzten sichere Wege: entlang der Flüsse, in [[wiki:klima|Klimazonen]] mit regelmäßigen Regenfällen und nicht zu kalten Wintern, mit Rückzugsmöglichkeiten in Höhlen oder auf Bäume. Wüsten, Gebirge, vereiste Gegenden erforderten einen hohen Aufwand: [[wiki:reisekleidung|Kleidung]], Transportmittel für Wasser und [[wiki:lebensmittel|Lebensmittel]] , die Technik des [[wiki:lagerfeuer|Feuermachens]], Schutz gegen Kälte und Sturm waren nötig. Der Druck zur Wanderung mußte schon außergewöhnlich stark sein, um sich solchen Bedingungen auszusetzen. Zogen sich einzelne Gruppen in Nischen, in Täler, auf Almen, auf Inseln, in Oasen zurück, riskierten sie ihre Existenz. Ein einziges kaltes Jahr, ein einzige ausgefallene Regenzeit bedeutete ihr Ende. Der Abstand zu anderen Gruppen durfte nie zu groß werden: wer zu schnell war, begab sich in die soziale Isolation, förderte Krankheit durch Inzucht. Das erforderte den Kontakt zu weiteren 20-30 Gruppen.
  
 ==== Der Bote ==== ==== Der Bote ====
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   „Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha)     „Du kannst nicht auf dem Pfad gehen, bevor du nicht Pfad geworden bist.“ (Buddha)  
  
-Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, Rasthäuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.+Wer sich tief in die Wildnis verirrt, ist diesem Zustand am nächsten - er muß sich verlieren, um seinen Weg gestalten zu können. Der kürzeste Weg in der Wildnis führt durch Schluchten und Wasserläufe, endet an Abbrüchen oder im Sumpf. Der kürzeste Weg ist meist ein kraftraubender, falscher. Den richtigen Weg zu kreieren, das ist die Kunst. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Natur und der eigenen Möglichkeiten. Ein solcher Weg sucht die Höhe, aber nicht den Gipfel, weicht Schwierigkeiten aus. Scheinbar sinnlose Kehren ermöglichen einen steten Gang. Der richtige Weg ist ein Weg der kleinsten Mühen. Die Wege der ersten Fußreisenden bestimmen noch heute die Welt des Menschen: Kreuzungen waren heilig - Wegkreuze wurden bis in die Gegenwart errichtet. Wo sich Wege kreuzten, entstanden Handelsniederlassungen, Dörfer, Städte. Wo niemand ausweichen konnte, entstanden Burgen, wurde Zoll erhoben. Ganze Länder kann beherrschen, wer die ein, zwei wichtigsten Straßen kontrolliert (Afghanistan). Die frühen Fußwege wurden Mensch und Umwelt in einem solchen Maße gerecht, daß sie oftmals kaum verändert bis heute existieren. Hier wurde der Belag ausgewechselt, dort verkürzten Brücken oder Dämme ein Stück, andernorts beseitigte man ein Hindernis. Flußläufe, Furten, Pässe, Quellen, Bodenbeschaffenheit und Höhenunterschiede bestimmten den groben Verlauf. Vier Bernsteinstraßen von zusammen etwa fünftausend Kilometern Länge durchzogen Europa in Nord-Süd-Richtung. Eine Königsstraße verband die Türkei mit Persien, [[wiki:rast|Rast]]häuser gab es in etwa 25 Kilometern Abstand, ideal für einen Tagesmarsch, im Gebirge nach 20 Kilometern. In drei Monaten wanderte man um 500 v. Chr. die 2500 Kilometer lange Strecke von Susa nach Ephesos zurück.
  
 ===== Die Reisen der Seßhaften ===== ===== Die Reisen der Seßhaften =====
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 Alle weiteren Motive und Möglichkeiten der Reisen zu Fuß resultieren aus der Seßhaftigkeit. Ist die Bindung an einen Ort für den Nomaden ein Unglück, so wurde der Verlust der Heimat dem Seßhaften Fluch, Schande oder gottgesandtes Schicksal. Heimat ist ortsgebundener Be-//sitz// im Rahmen fester sozialer, materieller und geographischer Bindungen. Eine folgenschwere Festlegung: Arbeit wird zum Wert an sich, Religion ebenso. Erstere manifestiert sich in der Anhäufung von Besitztümern (Im-//mobilien//) und im Ansehen achtbarer Berufe, die zweite in Gotteshäusern (dem Turm zu Babel), Statuen (das goldene Kalb) und Bildern (der Islam verbot sie). Die großen monotheistischen Weltreligionen wurzeln im Nomadentum (Buddha, Jesus und Mohammed waren Wanderer), doch die Seßhaften schufen sich einen reich bevölkerten Götterhimmel. Arbeit kompensierte den Verlust an [[wiki:freiheit|Freiheit]], Religiosität die Entfremdung von der Natur. Das eine oder andere in Frage zu stellen hieß, am Vertrag der Seßhaften zu rütteln. Christliche Sekten, die Besitzlosigkeit zur Grundlage des Glaubens machten, verfolgte die Kirche als Ketzer (Katharer). Wer die Arbeit scheut, wird zur sozialen Randfigur, zum Künstler oder Landstreicher. Seßhafte haben nun einmal ausgeprägte Ge-//wohn//-heiten.\\  Alle weiteren Motive und Möglichkeiten der Reisen zu Fuß resultieren aus der Seßhaftigkeit. Ist die Bindung an einen Ort für den Nomaden ein Unglück, so wurde der Verlust der Heimat dem Seßhaften Fluch, Schande oder gottgesandtes Schicksal. Heimat ist ortsgebundener Be-//sitz// im Rahmen fester sozialer, materieller und geographischer Bindungen. Eine folgenschwere Festlegung: Arbeit wird zum Wert an sich, Religion ebenso. Erstere manifestiert sich in der Anhäufung von Besitztümern (Im-//mobilien//) und im Ansehen achtbarer Berufe, die zweite in Gotteshäusern (dem Turm zu Babel), Statuen (das goldene Kalb) und Bildern (der Islam verbot sie). Die großen monotheistischen Weltreligionen wurzeln im Nomadentum (Buddha, Jesus und Mohammed waren Wanderer), doch die Seßhaften schufen sich einen reich bevölkerten Götterhimmel. Arbeit kompensierte den Verlust an [[wiki:freiheit|Freiheit]], Religiosität die Entfremdung von der Natur. Das eine oder andere in Frage zu stellen hieß, am Vertrag der Seßhaften zu rütteln. Christliche Sekten, die Besitzlosigkeit zur Grundlage des Glaubens machten, verfolgte die Kirche als Ketzer (Katharer). Wer die Arbeit scheut, wird zur sozialen Randfigur, zum Künstler oder Landstreicher. Seßhafte haben nun einmal ausgeprägte Ge-//wohn//-heiten.\\ 
  
-Kain erschlägt Abel, der Bauer den Nomaden. Im Schweiße seines Angesichts, den Rücken gebeugt, die Hände in der Erde sichert der Bauer sein Leben. Der seßhafte Hirte zäunt seine Weiden ein, sein Zelt erstarrt zu festen Mauern, die Siedlung erhält einen Wall. Dörfer und Städte brauchen Wasser und fruchtbares Land. Macht wurde ausgeübt: verfügen über ... und besitzen von ..., Grenzen gesetzt, Anspruch erhoben, selbst auf Nomaden. Die wurden verdrängt in unfruchtbare Rückzugsgebiete. Der Konflikt wurde unausweichlich. Die Bibel erzählt, daß Nomaden Städte angreifen (Jericho) und die Stadtgründer verfluchen. Noch 1690 beschlossen die wandernden Don-Kosaken die Todesstrafe für jeden, der den Boden bebauen wollte. Kolonialismus hieß fast immer Krieg mit Nomadenvölkern. Und heute? Die Tuareg in Mali, die Polisario in Mauretanien wehren sich mit der Waffe gegen Grenzziehungen.+Kain erschlägt Abel, der Bauer den Nomaden. Im Schweiße seines Angesichts, den Rücken gebeugt, die Hände in der Erde sichert der Bauer sein Leben. Der seßhafte Hirte zäunt seine Weiden ein, sein Zelt erstarrt zu festen Mauern, die Siedlung erhält einen Wall. Dörfer und Städte brauchen Wasser und fruchtbares Land. Macht wurde ausgeübt: verfügen über ... und besitzen von ..., Grenzen gesetzt, Anspruch erhoben, selbst auf Nomaden. Die wurden verdrängt in unfruchtbare Rückzugsgebiete. Der Konflikt wurde unausweichlich. Die Bibel erzählt, daß Nomaden Städte angreifen (Jericho) und die Stadtgründer verfluchen. Noch 1690 beschlossen die wandernden Don-Kosaken die Todesstrafe für jeden, der den Boden bebauen wollte. Kolonialismus hieß fast immer Krieg mit Nomadenvölkern. Und heute? Die [[wiki:tuareg|Tuareg]] in Mali, die Polisario in Mauretanien wehren sich mit der Waffe gegen Grenzziehungen.
  
 [[wiki:zeit_musse|Zeit]] wurde kostbar, [[wiki:reisen|Reisen]] schien gefährlich, erodierte Bindungen – Warum die mehrfach gesicherten [[wiki:grenze|Grenzen]] von Heim, Haus, Hof, Dorf und Land aufgeben, vertraute Bindungen lösen? Die Fußreise, vordem Bestandteil des Alltags, stand dem [[wiki:einzelne|Einzelnen]] nun zur Wahl, konnte Notwendigkeit sein oder [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]]. Existentieller Zwang zu reisen wurde durch den Zwang zur sozialen Legitimation ersetzt. Peinlich genau achteten Seßhafte darauf, daß Reisen sozial begründet und zeitlich begrenzt wurden. Legitim waren die Walz der Handwerksgesellen, der wandernde Krieger, der fahrende Händler, der Pilger. Vereinzelt hielten sich Rituale der nomadischen Kultur: Könige reisten von Pfalz zu Pfalz, Bischöfe von Diözese zu Diözese, Pilger zu den heiligen Stätten. [[wiki:zeit_musse|Zeit]] wurde kostbar, [[wiki:reisen|Reisen]] schien gefährlich, erodierte Bindungen – Warum die mehrfach gesicherten [[wiki:grenze|Grenzen]] von Heim, Haus, Hof, Dorf und Land aufgeben, vertraute Bindungen lösen? Die Fußreise, vordem Bestandteil des Alltags, stand dem [[wiki:einzelne|Einzelnen]] nun zur Wahl, konnte Notwendigkeit sein oder [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]]. Existentieller Zwang zu reisen wurde durch den Zwang zur sozialen Legitimation ersetzt. Peinlich genau achteten Seßhafte darauf, daß Reisen sozial begründet und zeitlich begrenzt wurden. Legitim waren die Walz der Handwerksgesellen, der wandernde Krieger, der fahrende Händler, der Pilger. Vereinzelt hielten sich Rituale der nomadischen Kultur: Könige reisten von Pfalz zu Pfalz, Bischöfe von Diözese zu Diözese, Pilger zu den heiligen Stätten.
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   * [[wiki:pilgerzeichen|Pilgerzeichen]]   * [[wiki:pilgerzeichen|Pilgerzeichen]]
   * [[wiki:reisegepaeck#Das Reisegepäck der Pilger im Mittelalter|Reisegepäck der Pilger]]   * [[wiki:reisegepaeck#Das Reisegepäck der Pilger im Mittelalter|Reisegepäck der Pilger]]
 +  * [[wiki:strannik|Strannik]]
 ==== Fahrendes Volk ==== ==== Fahrendes Volk ====
 In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch'').  In der Renaissance schrumpft die Welt weiter. Wissen der Antike wurde wiedergefunden, die Sonne in den Mittelpunkt der damaligen Welt gerückt, die Erde zur Kugel. Denker erweiterten den geistigen Horizont, Entdeckungsreisende den geographischen. Gewonnenes [[wiki:wissen|Wissen]] ging auf Kosten von Phantasie und Glauben. Die christliche Vorstellung vom Erdendasein als kurzer Episode, vom Leben als Reise, von Abraham als idealem Pilger, verlor an Bedeutung. Die Vision des ewigen Lebens verblaßte gegenüber den greifbaren Werten diesseitiger Güter. Arbeit schaffte nicht nur Güter, sondern auch jenseitigen Wert. Sinn wurde synonym mit Schein, Glanz, Geld. Sich pilgernd von Überflüssigem befreien? [[wiki:zeitempfinden|Keine Zeit]]! Um sicher zu gehen, schickte man Stellvertreterpilger nach Santiago de Compostela, das kostete so viel wie zwei Ochsen. Im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] blieb nur noch Spott:// „Ach! Da schaun sich traurig an/Pilgerin und Pilgersmann.“// (''W. Busch''). 
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 Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\  Die Hauptmahlzeit war üblicherweise abends (wenn es denn etwas gab) - das französische Diner bedeutete ursprünglich „entfasten“: zum Abend das erste Essen des Tages einnehmen. Diese Tageseinteilung findet man noch heute bei Nomaden in arabischen und afrikanischen Ländern. Selbst Brot war nicht immer selbstverständlich, schließlich setzt es einen Backofen und Brennmaterial voraus. Üblich war roher oder gekochter Getreidebrei. Das Wort „Kumpan“ entstand aus „conpagn“: Der Begleiter, mit dem ich mein Brot teile.\\ 
 Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, [[wiki:proviant|Proviant]], Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\  Ein Fußwanderer geht kaum langsamer als drei, kaum schneller als sieben Stundenkilometer. Eine Tagesstrecke von 25 Kilometern ist unter normalen Umständen problemlos, bei guten Wetter- und Straßenverhältnissen, bei entsprechender Kondition sind auch 70 Tageskilometer zu schaffen. Schlamm, Regen, Schnee, Eis verzögern das Tempo ebenso wie Flußüberquerungen, Täler, Berge, Unterholz, Sandboden. Orientierungspausen und Umwege kosten viel Zeit, Unterkunft, [[wiki:proviant|Proviant]], Trinken müssen organisiert, Schuhe geflickt werden. Erholungstage sind nötig, Krankheiten fesseln ans Bett, Zöllner machen Schwierigkeiten .... Der Probleme gibt es reichlich. Eine Strecke von 1500 Kilometern bedurfte etwa zweier Monate für einen Fußreisenden.\\ 
-Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] zusehends verfiel. Erst im [[wiki:reisegenerationen#Seit dem 11. Jahrhundert|11. Jahrhundert]] n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, Frauen, Alte.\\ +Jahrzehntausende lang gab es keine Alternativen. Ein erstes Verkehrsmittel war das Tragetuch für die Kinder, das zweite die nachgezogene Astgabel, beladen mit Lasten, Alten, Schwachen. Daraus mag die getragene Sänfte entstanden sein. Das Tragen von „Häuptlingen“ verlangt Hierarchien, die es unter Nomaden kaum in solchem Maße gab. Wo immer möglich, folgten frühe Routen den Flüssen. Wenn Sümpfe, Überschwemmungsgebiete und Auen das Verlassen des Flußlaufs erforderten, könnten treibende Baumstämme, Flöße und Einbäume (Dug-outs) flußabwärts das Reisen erleichtert haben, waren aber mit hohem [[wiki:risiko|Risiko]] verbunden: Wo kam die nächste Stromschnelle? Wer konnte schwimmen im Fall des Kenterns? Zur Flußüberquerung waren sie sicher ein geeignetes Mittel. Auch der Beruf des Fährmanns dürfte zu den ersten Berufen gezählt haben, wurde vielleicht noch vor den Zeiten der Seßhaftwerdung auf den Routen der Nomaden von Ausgestoßenen ausgeübt und erlangte mythologische Bedeutung ([[wiki:christophorus|Christophorus]]). Das Reisen mit dem Esel gibt es seit dem dritten Jahrtausend vor Christus, das Kamel wurde erst tausend Jahre später genutzt, zu Pferd ritt man seit etwa 1000 v. Chr. – weil es Vorteile im Kampf bot. Der Mythos des Kentauren entstand. Erste Streit- und Reisewagen tauchten in der Antike auf, erforderten aber geeignete Straßen und eine gute Infrastruktur, die im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] zusehends verfiel. Erst im [[wiki:reisegenerationen#Seit dem 11. Jahrhundert|11. Jahrhundert]] n. Chr. dienten Wagen wieder dem Reisen und dann zunächst für Verbrecher, für Kranke, [[wiki:frauen_unterwegs|Frauen]], Alte.\\ 
    
 ==== Auf der Walz ==== ==== Auf der Walz ====
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   Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.«   Es war der Sinn der Fremde, daß man sie annahm und verstand.«
  
-Die Walzgesellen erkannten einander in der Schar der Reisenden: Im »Berliner«, einem Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Tragegurten, oder dem Felleisen (lateinisch-italienisch valisa), einer Gepäckrolle aus Leder, steckten die wenigen Habseligkeiten. Ihre Kleidung konnte die Zunftzugehörigkeit ausdrücken, Werkzeug wurde oft sichtbar getragen, und wie die Meister trugen sie im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] eine Wehr. Fachliches Wissen, Spracheigentümlichkeiten und festgelegte Riten mit bestimmten Fragen und Antworten waren die Eintrittskarte zu Gesellenhäusern und Gesellenverbänden überall im deutschen Sprachraum. Schilder mit Gewerksymbolen zeigten die Herbergen für Maurer, Zimmerer, Schneider, Sattler an. Wer eintrat, mußte die Regeln kennen: »Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.« Der Wirt in seiner blauen Schürze begrüßt August Winnig: //»Mit Gunst und Erlaubnis!«//+Die Walzgesellen erkannten einander in der Schar der Reisenden: Im »Berliner«, einem Schnürbeutel aus schwarzem Wachstuch mit schwarzgrünen Tragegurten, oder dem Felleisen (lateinisch-italienisch valisa), einer Gepäckrolle aus Leder, steckten die wenigen Habseligkeiten. Ihre [[wiki:reisekleidung|Kleidung]] konnte die Zunftzugehörigkeit ausdrücken, Werkzeug wurde oft sichtbar getragen, und wie die Meister trugen sie im [[wiki:reisegenerationen#Der Blick zurück: Das Mittelalter als Epoche| Mittelalter]] eine Wehr. Fachliches Wissen, Spracheigentümlichkeiten und festgelegte Riten mit bestimmten Fragen und Antworten waren die Eintrittskarte zu Gesellenhäusern und Gesellenverbänden überall im deutschen Sprachraum. Schilder mit Gewerksymbolen zeigten die Herbergen für Maurer, Zimmerer, Schneider, Sattler an. Wer eintrat, mußte die Regeln kennen: »Die Tür zur Herberge stand offen, aber das hielt mich nicht ab, nach Vorschrift zu klopfen, nämlich dreimal; nach dem ersten Schlag gehört sich eine kleine Pause, der dritte aber folgt schnell auf den zweiten.« Der Wirt in seiner blauen Schürze begrüßt August Winnig: //»Mit Gunst und Erlaubnis!«//
  
 Die machtvolle Zeit der Zünfte war spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbei — Armut und Hunger trieben eher mehr Gesellen zur Walz, erst nach der Biedermeierzeit sah man sie seltener. 1839 öffnete der türkische ''Sultan Mahmehd II.'' die Grenzen für westliche Besucher; seither reisten die Gesellen vermehrt in den Nahen Osten. Der Wunsch, zu pilgern, und der Glaube, durch Gott beschützt zu wandern, verbanden sich mit der Idee der Walz. In Jerusalem ließ das preußische Konsulat eine eigene Gesellenherberge errichten, etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf. Die machtvolle Zeit der Zünfte war spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg vorbei — Armut und Hunger trieben eher mehr Gesellen zur Walz, erst nach der Biedermeierzeit sah man sie seltener. 1839 öffnete der türkische ''Sultan Mahmehd II.'' die Grenzen für westliche Besucher; seither reisten die Gesellen vermehrt in den Nahen Osten. Der Wunsch, zu pilgern, und der Glaube, durch Gott beschützt zu wandern, verbanden sich mit der Idee der Walz. In Jerusalem ließ das preußische Konsulat eine eigene Gesellenherberge errichten, etwa 25 protestantische Gesellen suchten Jerusalem jährlich auf.
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 ==== Straße als Ghetto ==== ==== Straße als Ghetto ====
-Die Straßen glichen zeitweise einem Jahrmarkt oder einem Tollhaus. Die Scharen der Wandernden machten jahrhundertelang etwa 10% der Bevölkerung aus, in Zeiten des Krieges, der Krankheiten, der Hungersnöte sollen bis zu 30% der Bevölkerung auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Berufsmäßig Reisende (fahrende Schüler und Studenten, Schausteller, Akrobaten, Spielleute, Hausierer, Wanderarbeiter, Scherenschleifer, Kesselflicker ...) hatten einen zweifelhaften Ruf. Sogenannte „unehrliche“ Berufe wurden umherziehend ausgeübt (Scharfrichter, Henker, Polizei- und Gerichtsdiener, Schinder, Abdecker, Bettelvogt ...). Ausgestoßene mußten reisen, man verwehrte ihnen den festen [[wiki:wohnsitz|Wohnsitz]] (Bettler, Vagabunden, Gauner, Landstreicher, Huren, Diebe, Trickbetrüger, Leirer, Sackpfeifer, Riemenstecher, Glückshafener, Deserteure ...). Weitere Gruppen galten von Geburt an als außenstehend (Juden, Zigeuner, Türken, Heiden, Wenden). Auch für Kranke (Kriegsversehrte, Krüppel, Lepröse, Misselsüchtige ...) blieb oft nur der Weg auf die Straße.+ 
 +Die Straßen glichen zeitweise einem Jahrmarkt oder einem Tollhaus. Die Scharen der Wandernden machten jahrhundertelang etwa 10% der Bevölkerung aus, in Zeiten des Krieges, der Krankheiten, der Hungersnöte sollen bis zu 30% der Bevölkerung auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Berufsmäßig Reisende (fahrende Schüler und Studenten, Schausteller, Akrobaten, Spielleute, Hausierer, [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]], Scherenschleifer, Kesselflicker ...) hatten einen zweifelhaften Ruf. Sogenannte „unehrliche“ Berufe wurden umherziehend ausgeübt (Scharfrichter, Henker, Polizei- und Gerichtsdiener, Schinder, Abdecker, Bettelvogt ...). Ausgestoßene mußten reisen, man verwehrte ihnen den festen [[wiki:wohnsitz|Wohnsitz]] (Bettler, Vagabunden, Gauner, Landstreicher, Huren, Diebe, Trickbetrüger, Leirer, Sackpfeifer, Riemenstecher, Glückshafener, Deserteure ...). Weitere Gruppen galten von Geburt an als außenstehend (Juden, Zigeuner, Türken, Heiden, Wenden). Auch für Kranke (Kriegsversehrte, Krüppel, Lepröse, Misselsüchtige ...) blieb oft nur der Weg auf die Straße.
  
 Städte und Dörfer versuchten sich vor den Wandernden zu schützen: Bestenfalls gab es Handlungspatente für Hausierer, Bettelerlaubnisse und aufsichtführende Bettelvögte, Arbeitsanstalten und Zwangsarbeit, Leprosien für Kranke. Unerwünschte wurden abgeschoben, in Schub[[wiki:karre|karren]] zum nächsten Ort gefahren, wenn sie nicht laufen konnten. Wer zurückkam, riskierte Pranger, Verstümmelung, Brandmarken. Kleine Vergehen wurden mit unverhältnismäßig hohen Haftstrafen gesühnt, oft die Todesstrafe verhängt.//„Auswärtige Bettler, Landstreicher und anderes liederliches Gesindel sollen diese Lande bei Strafe des Karrenschiebens oder anderer Strafe meiden.“// verkündete das Herzogtum Braunschweig an seinen Grenzen. Städte und Dörfer versuchten sich vor den Wandernden zu schützen: Bestenfalls gab es Handlungspatente für Hausierer, Bettelerlaubnisse und aufsichtführende Bettelvögte, Arbeitsanstalten und Zwangsarbeit, Leprosien für Kranke. Unerwünschte wurden abgeschoben, in Schub[[wiki:karre|karren]] zum nächsten Ort gefahren, wenn sie nicht laufen konnten. Wer zurückkam, riskierte Pranger, Verstümmelung, Brandmarken. Kleine Vergehen wurden mit unverhältnismäßig hohen Haftstrafen gesühnt, oft die Todesstrafe verhängt.//„Auswärtige Bettler, Landstreicher und anderes liederliches Gesindel sollen diese Lande bei Strafe des Karrenschiebens oder anderer Strafe meiden.“// verkündete das Herzogtum Braunschweig an seinen Grenzen.
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   den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.«   den bedeutsamen Schritt vom Wandervogel zum Handwerksburschen.«
 Die Polizei beobachtet und kontrolliert die **Handwerksburschen**, das weiß ''Mathias Ludwig Schroeder'' genau:// »Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt, denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.«// Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //»Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht«// helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden, denn äußerlich gleichen sie sich. Sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, doch selten Arbeit und lassen sich das Betteln nicht verbieten. Noch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien: //»Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls ...«//  Die Polizei beobachtet und kontrolliert die **Handwerksburschen**, das weiß ''Mathias Ludwig Schroeder'' genau:// »Auf eine Fleppenkontrolle darf ich es nicht ankommen lassen, sonst bin ich verratzt, denn ich habe bereits zwei Nächte auf eigene Faust, ohne Aufenthaltsstempel, im Heu geschlafen.«// Aufenthaltsstempel in Herbergen, Asylen, Arbeitsnachweise oder der Stempel: //»Inhaber hat sich heute vergeblich um Arbeit bemüht«// helfen der Polizei, Gesellen von Vagabunden zu unterscheiden, denn äußerlich gleichen sie sich. Sie sind arm, zu Fuß unterwegs und bemühen sich Tag für Tag um Essen und ein Bett. Sie haben Zeit, doch selten Arbeit und lassen sich das Betteln nicht verbieten. Noch unter den Heimatlosen gab es Hierarchien: //»Der Speckjäger ist ein Ausbeuter der Verkommenen; ein Organisator der Bettler und Simulanten; der Wucherer des Asyls ...«// 
-Der König der Vagabunden, ''Gregor Gog'', nennt in Trappmanns Buch »Landstraße, Kunden, Vagabunden« den Landstreicher +Der König der Vagabunden, ''Gregor Gog'', nennt in Trappmanns Buch »Landstraße, [[wiki:kundige|Kunden]], Vagabunden« den Landstreicher 
   »einen Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben    »einen Menschen, der sinnlos umherzieht, für den das Herumtreiben 
   eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranlaßt,    eine besondere Art Trunksucht ist, was manche Forscher sogar veranlaßt, 
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 ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den »Kunden«, heraus; Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer und gründete die »Bruderschaft der Vagabunden«. Pfarrer, Dichter, Anarchisten, Maler, Träumer und Wanderprediger, Jugendbewegte und Asoziale gingen auf die Landstraße, im Kontakte mit den Berliner »Anarcho-Syndikalisten« und der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«. ''Gustav Brügel'', Landstreicher und Schriftsteller aus Balingen bei Stuttgart, gab 1927 die erste Zeitschrift der Vagabunden, den »Kunden«, heraus; Gregor Gog übernahm nach der ersten Nummer und gründete die »Bruderschaft der Vagabunden«. Pfarrer, Dichter, Anarchisten, Maler, Träumer und Wanderprediger, Jugendbewegte und Asoziale gingen auf die Landstraße, im Kontakte mit den Berliner »Anarcho-Syndikalisten« und der »Gilde freiheitlicher Bücherfreunde«.
  
-**Kunden** waren sie alle. Der altniederrheinische //cunde// war ein Späher und Kundschafter, er wußte mehr als andere. Begegnete man sich auf der Straße, wurde auf die Frage »Kunde?« geantwortet mit »Ken Mathes?« Nicht der Mathias ist gemeint, sondern die »Medine« (Landstraße) und bedeutet so: »Ich kenne die Landstraße«.\\ +**[[wiki:kundige|Kunden]]** waren sie alle. Der altniederrheinische //cunde// war ein Späher und Kundschafter, er wußte mehr als andere. Begegnete man sich auf der Straße, wurde auf die Frage »Kunde?« geantwortet mit »Ken Mathes?« Nicht der Mathias ist gemeint, sondern die »Medine« (Landstraße) und bedeutet so: »Ich kenne die Landstraße«.\\ 
 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 trafen sich in Stuttgart 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. 1930 drehte die UFA einen Vagabundenfilm mit Gregor Gog und anderen Vagabunden. Im gleichen Jahr gab es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager und flieht Ende 1933 in die Schweiz. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten. 1928 fand der erste öffentliche Vagabundenabend in Stuttgart statt, weitere folgten in Berlin, Mannheim, Hamburg, Dortmund. Pfingsten 1929 trafen sich in Stuttgart 600 Vagabunden aus Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Dänemark, Finnland, Ägypten. 1930 drehte die UFA einen Vagabundenfilm mit Gregor Gog und anderen Vagabunden. Im gleichen Jahr gab es in Deutschland acht Ausstellungen von Vagabundenkünstlern. 1933 wird Gregor Gog verhaftet, kommt in ein Konzentrationslager und flieht Ende 1933 in die Schweiz. Die Bücher der Vagabunden wurden verboten, das gesamte Archiv abtransportiert. Die folgenden zwölf Jahre genügten, um Kultur und Tradition der Vagabunden fast vollständig auszurotten.
  
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 Die **Freiheit des Gehens** in der Wüste entdeckte und beschrieb ''Otl Aicher'' in schönen Bildern.  Die **Freiheit des Gehens** in der Wüste entdeckte und beschrieb ''Otl Aicher'' in schönen Bildern. 
-Weit über 200 Jahre früher fand der aufklärende Denker ''Jean-Jacques Rousseau'', Genfer und Franzose, in der Natur der Schweizer Bergwelt **Weitblick und Raum für freies Denken**, für seinen Traum vom erfüllten Leben. Um 1750 erwanderte er sich die Schweiz als vielleicht erster überzeugter **Fußwanderer**. *[[wiki:klima|Klima]] und Luft rühmend, Bergwelt und Älpler idealisierend entwarf er 1761 in seiner »La Nouvelle Héloïse« Visionen eines Arkadiens, die nachfolgende Generationen begierig aufnahmen. Die Schweiz mit ihren mühselig zu überschreitenden Pässen, bislang nur Durchreiseland, wurde zum Ziel der Bildungsbürger. Hirten erschienen sorglos, Alpen wurden zu saftigen Matten, Felshänge scheinen schützend bei ''Caspar David Friedrich'', vereint mit malerischen Sturzbächen. Rousseaus »Retournons à la nature!« hallte bis tief in unser Jahrhundert. Wilde Wald- und Berglandschaften erhielten nun romantisierende Beinamen, die Sächsische Schweiz wurde als eine der ersten getauft. Naturgenuß, die Schweiz als Symbol für Freiheit und das Wandern als klassenlose Reiseart – das waren Ideen, die in das Saeculum der Revolutionen paßten. Fußreisen waren ein Affront gegen ständische Überzeugungen, denen rote Wangen bäurisch schienen, weiße Haut als Zeichen besseren Standes galten, frische Luft als schädlich galt und denen es unschicklich war, sich körperlich zu betätigen.+Weit über 200 Jahre früher fand der aufklärende Denker ''Jean-Jacques Rousseau'', Genfer und Franzose, in der Natur der Schweizer [[wiki:bergwelt|Bergwelt]] **Weitblick und Raum für freies Denken**, für seinen Traum vom erfüllten Leben. Um 1750 erwanderte er sich die Schweiz als vielleicht erster überzeugter **Fußwanderer**. *[[wiki:klima|Klima]] und Luft rühmend, Bergwelt und Älpler idealisierend entwarf er 1761 in seiner »La Nouvelle Héloïse« Visionen eines Arkadiens, die nachfolgende Generationen begierig aufnahmen. Die Schweiz mit ihren mühselig zu überschreitenden Pässen, bislang nur Durchreiseland, wurde zum Ziel der Bildungsbürger. Hirten erschienen sorglos, Alpen wurden zu saftigen Matten, Felshänge scheinen schützend bei ''Caspar David Friedrich'', vereint mit malerischen Sturzbächen. Rousseaus »Retournons à la nature!« hallte bis tief in unser Jahrhundert. Wilde Wald- und Berglandschaften erhielten nun romantisierende Beinamen, die Sächsische Schweiz wurde als eine der ersten getauft. Naturgenuß, die Schweiz als Symbol für Freiheit und das Wandern als klassenlose Reiseart – das waren Ideen, die in das Saeculum der Revolutionen paßten. Fußreisen waren ein Affront gegen ständische Überzeugungen, denen rote Wangen bäurisch schienen, weiße Haut als Zeichen besseren Standes galten, frische Luft als schädlich galt und denen es unschicklich war, sich körperlich zu betätigen.
  
 Der gesellschaftskritische Publizist und Pädagoge ''Afsprung'' wanderte 1782 durch die Schweiz und schrieb einen radikaldemokratischen Reisebericht, ihm folgten andere Poeten, wie ''Christoph Meiners'', 1784, ''Gerhard Anton von Halem'', 1790, ''Johann Gottfried Ebel'', 1792, ''Friedrich Leopold von Stolberg'', 1794, ''Johann Wolfgang von Goethe'', 1779 und 1797. Der Reisebericht wandelte sich vom politischen zum literarischen Medium, machte die Fußreise zum Topos: so 1797 im »Gestiefelten Kater« von ''Ludwig Tieck'', 1809 in den //Wahlverwandtschaften// Goethes, 1826 im //Taugenichts// von ''Eichendorff'', 1835 im //Lumpazivagabundus// ''Johann Nestroys'' und nicht zuletzt in den //Müllerliedern// ''Schuberts''. Der gesellschaftskritische Publizist und Pädagoge ''Afsprung'' wanderte 1782 durch die Schweiz und schrieb einen radikaldemokratischen Reisebericht, ihm folgten andere Poeten, wie ''Christoph Meiners'', 1784, ''Gerhard Anton von Halem'', 1790, ''Johann Gottfried Ebel'', 1792, ''Friedrich Leopold von Stolberg'', 1794, ''Johann Wolfgang von Goethe'', 1779 und 1797. Der Reisebericht wandelte sich vom politischen zum literarischen Medium, machte die Fußreise zum Topos: so 1797 im »Gestiefelten Kater« von ''Ludwig Tieck'', 1809 in den //Wahlverwandtschaften// Goethes, 1826 im //Taugenichts// von ''Eichendorff'', 1835 im //Lumpazivagabundus// ''Johann Nestroys'' und nicht zuletzt in den //Müllerliedern// ''Schuberts''.
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   und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. …    und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. … 
   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«   Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«
-1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] allerdings für die Wanderarbeiter, das industrielle Proletariat.+1802 wanderte ''Johann Gottfried Seume'' von Leipzig nach Syrakus, ''Karl Philipp Moritz'' schaute wandernd Frankreich und England, ''Goethe'' erwanderte sich die Schweiz - wie immer, sind die Dichter ihrer Zeit voraus. Das Erlebnis von Natur wird verknüpft mit bestimmten bürgerlich akzeptierten Sichtweisen (''Spitzweg''), Aussichtstürme entstehen, man erweitert den eigenen Horizont und das Fernrohr gehört zur Wanderausrüstung. Das Wandern als Fußreise ohne Not und Zwang entsteht als bildungsbürgerliche Freizeitbeschäftigung. Kulturell geschätzt wird sie erst seit der Industrialisierung des Reisens: Raum wird zum Hindernis, Zeit ist Geld, Wahrnehmungen rauschen vorbei. Neue Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Auto) und verbesserte Straßen lassen die Fußreise in neuem Licht erscheinen. Gehen als unmittelbarste Form der Bewegung, ohne Vermittlung, in direkter Berührung der Umwelt, in menschgemäßem [[wiki:zeitempfinden|Tempo]] und mit ungefilterter Wahrnehmung. Gehen verändert die Wahrnehmung nur gemächlich, Reaktion ist möglich. Sich-gehen-lassen meint, das Denken ausschalten, dem Körper die Wahl der [[wiki:zeitempfinden|Geschwindigkeit]], des Rhythmus überlassend. Wenig romantisch ist die Straße im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] allerdings für die [[wiki:wanderarbeiter|Wanderarbeiter]], das industrielle Proletariat.
  
 Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] ** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn. Auf der anderen Seite wurde die Fußreise im **[[wiki:spaziergang|Spaziergang]] ** kultiviert, doch weicht die freie Natur dem gestalteten Landschaftsgarten, der einsame Wanderer dem geselligen Bürger, die Innenschau dem Sich-Sehen-Lassen. Für die unübersichtlichen Landschaftsgärten erschienen eigene Reiseführer, die Wege zu Sitzgelegenheiten ebenso beschrieben wie Aussichten, Bäume und Sträucher. Man eignete sich Natur an, überraschend durfte sie sein, nicht aber unberechenbar. Sie zu empfinden, setzte Distanz voraus und Bildung, war also den gehobenen Ständen vorbehalten. Die Philanthropen ''Christian Karl André'', ''Gotthilf Salzmann'' und ''Christoph Guthsmuths'' forderten und entwickelten die Leibeserziehung als kulturelle Tugend, der philanthropische Lehrer und Schriftsteller ''Karl Philipp Moritz'' überhöht diese Ideen 1785/86 literarisch in seinem Werk //Anton Reiser// und bereitet den Weg für Turnvater Jahn.
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 Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer. Es bleibt der Rückzug auf das menschliche Maß, der Verzicht auf unnötige Technik. ''Reinhold Messner'' besteigt alle Achttausender ohne Sauerstofflasche. ''Michael Holzach'' durchwandert 1980 mit seinem Hund Feldmann in sechs Monaten Deutschland, ohne Geld von Hamburg über das Ruhrgebiet nach Lindau, München und zurück, aber auch ohne Uhr, ohne Karte. //»Hamse wohl was altes Brot übrig?«// kommt in Bäckereien immer gut, und dann:// »Ich empfinde eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag.«// Einige Zeit später springt er in die Emscher, um Feldmann zu retten. Michael Holzach ertrinkt, der Hund erreicht das Ufer.
  
-Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder [[wiki:flucht|Flucht]] noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial [[wiki:reisende|Reisende]], [[wiki:wandervogel|Wandervögel]] und [[wiki:spaziergang|Spaziergänger]], Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und Kunden, durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.+Wahres Reisen ist freiwillig und beendbar, darf Last sein und Mühe, ist jedoch weder [[wiki:flucht|Flucht]] noch Zwang. Alle Zeitalter boten ihren Ruhe- und Rastlosen legitimierte Wandermöglichkeiten. Reisende fanden ihren Weg zwischen den Polen Natur, Individuum und Gesellschaft: Spirituell Reisende, Pilger insbesondere, nutzen die äußere Reise als Mittel zur Suche nach dem Selbst oder nach Gott. Andere Reisende, Bergsteiger im Besonderen, stellen Geist und Körper auf die Probe, messen ihre Leistung und suchen ihre Grenzen in der Natur. Schließlich grenzen sich sozial [[wiki:reisende|Reisende]], [[wiki:wandervogel|Wandervögel]] und [[wiki:spaziergang|Spaziergänger]], Gesellen und Arbeiter, Vagabunden und [[wiki:kundige|Kunden]], durch ihre Reisen ab oder sie zeigen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit.
  
 Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie. Der erste Weltkrieg, seine politische Folgen, die Weltwirtschaftskrise und ein weiterer Weltkrieg unterbrachen diese Entwicklung, begrenzten die Möglichkeiten der Fußreise und beendeten Traditionen. Im Gegenteil: Während des Dritten Reiches verbanden sich mittelalterliche Methoden mit moderner Bürokratie. Die Straßen waren wieder voll, aber nicht mit Touristen. Der Krieg gegen das fahrende Volk wurde offensiver geführt denn je: Juden, Zigeuner, Landstreicher, Arbeitslose, Kranke .... mobile Gruppen vielfältiger Herkunft traten ihren oft letzten Gang an: ins KZ, ins Arbeitslager, zur Euthanasie.
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 siehe auch:\\  siehe auch:\\ 
-* Quellen: [[wiki:Literaturliste zum Fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\  +* Quellen: [[wiki:literaturliste_fussreisen|Literaturliste zum Fussreisen]]\\  
-* [[wiki:literaturliste_zur_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ +* [[wiki:literaturliste_reiseliteratur|Literaturliste zur Reiseliteratur]]\\ 
 * [[wiki:fachliteratur|Fachliteratur]]\\  * [[wiki:fachliteratur|Fachliteratur]]\\ 
  
 <html><img src="https://vg07.met.vgwort.de/na/708528d1d7be46419e3ad492e83f0c01" width="1" height="1" alt=""></html> <html><img src="https://vg07.met.vgwort.de/na/708528d1d7be46419e3ad492e83f0c01" width="1" height="1" alt=""></html>
wiki/fussreisen.1638031624.txt.gz · Zuletzt geändert: 2021/11/27 16:47 von norbert

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