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Fortbewegung

Die Fortbewegung ist ein Teilsystem der Navigation wie auch

Handlungsformen des Unterwegs-seins

Die Fortbewegung (engl. locomotion, lat. loco `vom Ort´ + motio `bewegen´), als Voraussetzung für die Formen des Unterwegs-seins (Reise, Fahrt) des Menschen (Homo sapiens) beruht ursprünglich und ausschließlich auf dem Gehen (selbständig als Homo viator) und dem Getragenwerden (Homo portans), bevor sich der Hund dem Menschen anschloss und diesen anregte Nutztiere zu domestizierten, die für ihn Lasten auf Fuhrwerken zogen.

  • Im Vordergrund steht hier das selbständige „sich-fortbewegen“ verbunden mit „in eine bestimmte Richtung“, also von einem bestimmbaren Ausgangsort hin zu etwas, einem durch Absicht entstandenen Ziel, das jedoch kein bestimmter Zielort sein muss.
  • Ein anhaltendes Unterwegs-sein setzt eine ökonomische Fortbewegung voraus: einen rhythmischen Gang. Das Erschließen des Raumes steht an erster Stelle (→ Raumvorstellungen), nicht die Zeit, denn weder Kriechen noch Rennen bestimmen das Unterwegs-sein des Menschen.
  • Als Landlebewesen ist der Mensch ein Gehender auf dem festen Boden. Erst die technischen Mittel ermöglichen erweiterte Arten der Fortbewegung durch den Raum.
  • Das setzt in jedem Fall eine Richtung voraus, also Orientierung, die durch Absichten und Möglichkeiten bestimmt wird:
    • eine Spur in der Wildnis erkennen, eine Fährte verfolgen,
    • sich eine glatte Bahn durch Flur & Feld schaffen,
    • einen Pfad nutzen,
    • einen Weg im Zwischenraum wählen,
    • auf der Straße fahren.

Fortbewegungsverben unterscheiden sich sprachlich durch die ursprüngliche zentrale Verwendung (Handlung) und die spätere metaphorische Verwendung in Reisebild und Weltbild. Der handlungsorientierte Bedeutungsgehalt für das Unterwegs-sein wird durch folgende Kategorien unterscheidbar:

Handlung gehen senden fahren reiten reisen wandern wallern
Adverb gehend gesandt fahrend reitend reisend wandernd wallernd
Nomen Gang Sendung Fahrt Ritt Reise Wanderung Wallfahrt
Subjekt Gehender Gesandter
Bote
Fahrender Reiter Reisender Wandernder Waller
Objekt weißer Stab Boot >
Fuhrwerk
Reittier Rüstzeug>
Ausrüstung
Wanderstock Pilgerstab

Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen

Eine gründliche Untersuchung (Breidbach 1994) fand 358 verschiedene Bezeichnungen für Fortbewegung in den ältesten Quellen der sieben altgermanischen Sprachen 1) und reduzierte diese auf 21 Stämme für das `sich-fortbewegen´ des Menschen. Diese wurden auf ihre Bedeutung im textlichen Zusammenhang untersucht und geordnet, hier stark vereinfacht:

  • *senþa erscheint als vorliterarische, urgermanische Bezeichnung der menschlichen Fortbewegung und wurde später von den nachfolgenden Formen verdrängt; *sent wäre deren indogermanische Wurzel im Sinne von senden, sinnen, trachten nach, also ein sich fortbewegen in einer bestimmten Richtung mit Ziel, Zweck und Sinn.
  • *ganga (Fortbewegung aus eigener Kraft ohne Hilfsmittel; indogermanisch *ğhengh `schreiten, Schritt´) und
  • *wega (Ort der Fortbewegung und teils die Fortbewegung selbst; indogermanisch *ųeğh) sind in allen sieben Sprachen zu finden und dürften daher auch urgermanisch sein. Im Wesentlichen leben Gang und Weg mit ihrem Bedeutungsgehalt bis heute nahezu unverändert fort. *wega bedeutet ein „auf und ab“ wie beim Wiegen mit einer Balkenwaage und ein „hin-und-her“ des gezogenen Wagens (zwischen Acker und Ort?) sowie abstrahiert davon die Bewegungsbahn (den Weg) zwischen den beiden Polen. Weg-Worte bildeten in der Untersuchung die umfangreichste Quelle.
  • *faran (< indogermanisch *per `hinüberführen, übersetzen, durchdringen´) mit ursprünglichem Bezug zum Wasser (Bootsfahrt?) verdrängt in späterer Zeit in sechs Sprachen (außer jm Gotischen) das ältere *senþa mit weit gefasster Bedeutung. Faran wird das Wort mit den meisten Ableitungen und Aspekten.
  • *weiþ-o (ahd. weida, mhd. weide, aengl. wað) bezeichnete das sich-fortbewegen zur Nahrungsbeschaffung, also ursprünglich das gezielte Angehen des Wildes auf der Jagd, später den Gang zur Weide, zum Fischgrund und erhielt sich bis zum 19. Jahrhundert vielleicht im Wadsack.
  • Das althochdeutsche *reisa und das mittelhochdeutsche ge-verte sind später entstanden.

(Fast) Alle diese Bezeichnungen bezeichnen im Laufe der Zeit in unterschiedlich ausgeprägter Art und Weise

  • das sich-fortbewegen > das Unterwegs-sein;
  • einen Ort;
  • dienen als Metapher
  • oder manchmal als Iterativadverb: zweimal, dreimal, viermal, immer, niemals.

Bereits in den ältesten verfügbaren Quellen der sieben Sprachen überwiegt die Verwendung als Metapher, so dass die praktische Bedeutung ein weitaus höheres Alter haben muss und sich der Sprachanalyse entzieht.

Der Sinn solchen Unterwegs-seins erschließt sich erst durch weitere Begriffe:

  • Die Waid als Jagd und der Gang zur Weide waren notwendige Formen des Unterwegs-seins zur Nahrungsbeschaffung im vertrauten Raum (Bann).
  • Das Verlassen des vertrauten Raums war entweder eine Strafe (Verbannung) für den Outlaw oder spirituelle Reise an Übergängen etwa als Utiseta einer Seherin.
  • Die Aussendung eines Gesandten oder Boten zu einem entfernten Ort erscheint als ursprünglichste legitime Form des Unterwegs-seins außerhalb der Nahrungsbeschaffung.
  • Die Fahrt mit einem Fuhrwerk erweiterte und veränderte den zugänglichen Raum (die Furt durch ein Gewässer) und erschloss neue Transportmöglichkeiten ( Fuhre).
  • Wallern und wandern bedeuteten zuerst 'sich wiederholt hierhin und dorthin wenden' im alltäglichen Raum 2). Erst etwa seit dem 12./13. Jahrhundert wird dies übertragen auf 'von einem ort zum andern ziehen' 3).

Gang, Weg und Fahrt in der germanischen Mythologie

In der ältesten Schicht hat sich das Gehen mit *wegan verbunden (weg-gehen) und wurde zum Gang im Sinne von Unterwegs-sein: auf dem Weg sein. Ein Indiz für ein hohes Alter ist die Nutzung der Wortwurzeln ganga, senþa, vega in der germanischen Mythologie. Dort heißt es, dass Odin 42 Reisen zu den Völkern unternommen habe, um deren weise Frauen und Männer zu prüfen 4). Dabei erhielt er jedes mal einen Beinamen 5):

  • als Beiname (heiti) Odins: Gangari, Ganglari, Gangleri: `der des Gehens Gewohnte (Müde?)´ 6)
  • … Gangráðr: `der des Gehens Kundige´> Ratgeber7)
  • Odins Speer Gungnir: `Gehender´ > Durchdringer; als Váfuðr Gungnis `der den Speer schwingt´
  • als Beiname (heiti) Odins: Sanngetall: `der den Sinn findet´ (die Wahrheit errät) 8)
  • … Váfuðr, Vafud: `der Schwingende´ > Gehender 9)
  • … Vegtamr: der `Weggewohnte, Wegzähmer´ 10)
  • … viðferur/-forull (Víthförull): `Weitfahrer´ 11)
  • Synonym: Wodan-Merkur: Mercurius viator, viator indefessus, Gangleri, Vegtamr, viðforull 12)
  • als Kenning: hwæl-weġ `Der Weg des Wals´ > die See 13)

Literatur

  • NN
    Feld der Fortbewegung.
    Wörterbuch der Valenz etymologisch verwandter Wörter: Verben, Adjektive, Substantive.
    Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2011, pp. 23-46. DOI
  • Winfried Breidbach
    Reise - Fahrt - Gang. Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen.
    Peter Lang 1994 Diss. Köln
  • Hipp, Helga [=Diersch, Helga 1972]
    Verben der Fortbewegung in der deutschen Sprache der Gegenwart.
    Eine Untersuchung zu syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen des Wortinhalts.
    Leipzig, Philol. F., Diss. 17. Mai 1968. Berlin : Akademie-Verlag, 1972. Literaturverz. S. 214 - 221.
  • Ladtschenko, M.
    Wortbildende und semantische Besonderheiten der deutschen onomatopoetischen Fortbewegungsverben.
    Сучасні дослідження з іноземної філології 13 (2015): 80-86.
  • Muroi, Yoshiyuki
    Zur Szene von `fahren´.
    In: Energeia 18 (1992) 59-72
  • Muroi, Yoshiyuki
    Zu den peripheren Verwendungen von fahren und fliegen.
    Die Deutsche Literatur 93 (1994): 136-144.
  • Nedoma, Robert
    Zur Problematik der Deutung älterer Runeninschriften–kultisch, magisch oder profan?
    Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. De Gruyter, 2012. 24-54.
    Anmerkungen zu den altgermanischen Bezeichnungen für Reise, Fahrt, Gang.
  • Gabriele Schabacher
    Fußverkehr und Weltverkehr. Techniken der Fortbewegung als mediales Rauminterface.
    S. 23-41 in: Annika Richterich (Hg.): Raum als Interface (=Sonderheft Massenmedien und Kommunikation, MuK 187/188), Siegen 2011
  • Schpak-Dolt, Nikolaus
    Transitive Verben der Fortbewegung: Anhang: Weg, Route, Bewegung.
    Arbeitspapier 11. Fachgruppe Sprachwissenschaft der Universität Konstanz, 30 S., 1989.
  • Takahashi, Miho
    Über die Asymmetrie von „Ursprung “und „Ziel “.
    Eine korpusbasierte Studie am Beispiel der Partikel-und Doppelpartikelverben der Fortbewegung mit fahren.
    Linguisten-Seminar: Forum japanisch-germanistischer Sprachforschung. Vol. 3. Japanische Gesellschaft für Germanistik, 2021.
  • Norbert Wagner
    Der Name der ,Schrittfinnen‘.
    Historische Sprachforschung / Historical Linguistics 121 (2008) 241-244.
    Die antiken Bezeichungen für die Finnen werde von schreiten/gleiten abgeleitet und mit dem Einsatz des Ski verbunden.
  • Wolf, Norbert Richard
    Wie reist Gawan, wie der Pilger? Zum 'Reisewortschatz' im Mittelalter I.
    In: Dietrich Huschenbett/John Margetts (Hg.): Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Würzburg 1991 (=Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 6), S. 14 - 23
  • Wolf, Norbert Richard
    Reisen im Mittelalter? Anmerkungen zum mittelalterlichen Reisewortschatz II.
    In: Verborum Amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Fs. Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag. Berlin/New York 1992, S. 263 - 272
  • Wolf, Norbert Richard
    Der Mensch geht, der Teufel fährt.
    Zum semantischen und syntaktischen Verhalten einiger Fortbewegungsverben.
    Sprachwandel im Deutschen. De Gruyter, 2018. 77-90.

Fortbewegungsverben im Sprachvergleich

  • Cheng, Ying
    Deutsche und chinesische Bewegungsverben: Ein sprachdidaktischer Vergleich ihrer Semantik und Valenz.
    Diss Berlin 1988. Berlin, Boston: De Gruyter, 2019. DOI
  • Storjohann, Petra
    A diachronic constrastive [sic] lexical field analysis of verbs of human locomotion in German and English.
    Zugl.: Manchester, Univ., Diss., 2002. 265 S. graph. Darst. Frankfurt/M. P. Lang 2003
  • Krassin, Gudrun
    Das Wortfeld der Fortbewegungsverben im modernen Französisch.
    294 S. Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1981 Frankfurt am Main Bern New York Lang 1984.
    Mit einem Überblick der 1981 vorliegenden Arbeiten zu Fortbewegungsverben im Englischen, Deutschen und Französischen. Inhalt u.a.:
    • Fortbewegung auf festem Untergrund:
      circuter, marcher, rouler, cheminer, trotter, courir, ramper, glisser;
    • Subjektiv bewertete Fortbewegung:
      se glisser, se couler, se pavaner, se traîner, se promener, flâner, déambuler, errer, vagabonder, rôder, voyager;
    • Nach vom bzw. nach hinten gerichtete Fortbewegung:
      (s')avancer,(se) reculer, progresser, rétrograder;
    • Hin- bzw. weggerichtete Fortbewegung:
      aller, venir, retourner, rentrer, s’écarter, s'éloigner, (s’)approcher, partir, arriver, parvenir;
    • Hinein- bzw. hinausgerichtete Fortbewegung:
      sortir, entrer, pénétrer, s‘introduire;
    • Präteritive Fortbewegung:
      passer, parcourir, arpenter, traverser, franchir, enjamber, raser, longer, côtoyer
  • Schmidt, Gabriele
    Deutsche Verbalzusammensetzungen aus weg/her/hin und Verben der Fortbewegung und ihre russischen Entsprechungen.
    143, XI, 10 Bl. Leipzig Diss. 1989.
  • Rajchartová, Marina
    Analyse der präfigierten und zusammengesetzten Verben der aktiven menschlichen Fortbewegung am Beispiel ausgewählter deutscher Verben und ihrer tschechischen Entsprechungen.
    147, 10 Bl. Leipzig, Univ., Diss. 1987.
1)
Gotisch, Altwestnordisch, Altenglisch, Altfriesisch, Altsächsisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
2)
iterative Verben: wiederholt wallen; wiederholt wenden > Kehr und Widerkehr auf dem Acker
3)
Grimm DWB, Bd. 27, Sp. 1662
4)
Ettmüller, Ludwig
Vaulu-spá: das älteste Denkmahl germanisch-nordischer Sprache, nebst einigen Gedanken über Nordens Wissen und Glauben und Nordische Dichtkunst. Leipzig 1830: Weidmann S. IX
5)
Schlauch, Margaret
Wīdsīth, , Víthförull, and Some Other Analogues.
PMLA 46.4 (1931) 969-987.
Wanner, Kevin J.
God on the margins: Dislocation and transience in the myths of Óðinn.
History of religions 46.4 (2007) 316-350
6)
Gylfaginning, Grímnismál (46), Óðins nǫfn (3)
7)
Óðins nǫfn (3)
8)
Gylfaginning, Grímnismál (47), Óðins nǫfn (7)
9)
Gylfaginning, Skáldskaparmál, Grímnismál (54)
10)
Baldrs draumar (6, 13)
11)
Beiname von Oddr bei seiner Reise nach Hunaland und Beiname des Zauberers Magus; Altnordische Saga-bibliothek …. Heft 2, S.67 Halle a.S.: M. Niemeyer, 1892.
12)
Kaspers, Wilhelm
Germanische Götternamen.
Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 83.2 (1951) 79–91. Online
13)
The Seafarer 63 a; Beowulf
wiki/fortbewegung.1658860315.txt.gz · Zuletzt geändert: 2022/07/26 18:31 von norbert

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