Marie-Luise Raters
Einleitung: Jenseits der Pflicht? Einleitende Reflexionen zur Supererogation
Zeitschrift für Praktische Philosophie Band 4, Heft 2, 2017, S. 107–116
www.praktische-philosophie.org https:doi.org/10.22613/zfpp/4.2.5
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Zusammengesetzt aus den altgriechischen Wörtern αὐτός autós »selbst« und νόμος nómos »Gesetz« erklärt sich der Begriff als die Fähigkeit des Menschen, sich als Person selbst zu bestimmen. Autonomie bildet gemeinsam mit *Autarkie und *Mündigkeit die Voraussetzung zur *Souveränität.
Das setzt die Freiheit voraus, selbstbestimmt zu entscheiden und die Möglichkeit auch so zu handeln. Dazu muss der Mensch fähig sein, sich als freies Wesen zu erkennen und danach streben, durch Denken und Handeln den Raum seiner *Freiheit zu dehnen.
Je kleiner der Raum fürs Denken und Handeln wird, desto geringer ist die Autonomie. Die Größe des Raums wird bestimmt durch innere Fähigkeiten und äußere Möglichkeiten, ist also teils selbstbestimmt, teils fremdbestimmt, jedoch variabel. In diesem Raum übt das Individuum seine Rechte aus, ist souverän. Reisende verwirklichen sich handelnd über folgende Felder:
Erfahrung | Gestalten | |
---|---|---|
Reisen | Know-How | Autonomie |
Welt | Staunen | Weltanschauung |
Zeit | Muße | Freiheit |
Leben | Minimalismus | Lebensreisestil |
Das Gegenteil selbstbestimmten Handelns ist ein fremdbestimmes Ausgeliefert-Sein, resultierend aus
Das Unterwerfen unter äußere handlungsleitende Maximen setzt immerhin ein Einverständnis voraus, man handelt aus:
Die Wirtschaftstheoretiker definieren den Menschen als ein ökonomisch rational handelndes Wesen, das den Eigennutz zur Maxime hat. Dieses Konzept funktioniert jedoch außerhalb des Lehrbuchs nicht so recht.
Die vorgenannten Maximen erklären aber nicht hinreichend menschliche Handlungen: Warum tun wir Dinge, die wir nicht tun müssten und von denen wir uns keinen Vorteil erhoffen? Die weder Pflicht sind, die niemand von uns erwartet, die weder opportun sind noch belohnt werden oder deren Nicht-Tun bestraft würde? Solches Handeln wird als »supererogativ« bezeichnet 1) und plakativ umrissen als viertes Handlungsfeld der Heiligen und Helden 2) neben dem Erlaubten, Verbotenen und Gesollten.
Um Mensch zu sein müssen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Denken und Handeln im Einklang stehen: »Willst Du erkennen, so lerne zu handeln.« lautet der ästhethische Imperativ von Heinz von Foerster
, während Erich Kästner
nach dem Ende des Dritten Reiches erkannte: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.«
Der technische Imperativ von Hans Jonas
3) verfolgt alleine das Machbare: »Handle so, dass keine der Dir zu Gebote stehenden technischen Möglichkeiten ungenutzt bleibt.« Das Machbare wird damit ausgelotet ohne Rücksicht auf die Folgen, während Immanuel Kants kategorischer Imperativ die wünschbaren (sozialen) Folgen im Blick hat: »Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Hans Jonas
erweitert das Wünschbare auf die Welt als Ganzes, weil der Mensch auch Verantwortung für seine Umwelt und Nachwelt habe und formulierte den ökologischen Imperativ: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«.
Wer frei sein will, muss beides nutzen, die Grenzen des Denkbaren und Machbaren dehnen. »Handle stets so, dass mehr Möglichkeiten entstehen!« formulierte der Physiker Heinz von Foerster
seinen ethischen Imperativ 4).
Er antwortete in einem Interview mit dem Sonntagsblatt auf die Frage:
»Das bedeutet, der Konstruktivismus - verstanden als eine Haltung - ist auch eine Art Medizin gegen den Dogmatismus, gegen ein eindimensionales Denken?«
»Ja, wunderbar! Das gefällt mir! Man könnte auch sagen, daß hier eine Art Tanz mit der Welt versucht wird, der einen zu immer neuen Betrachtungsweisen bringt. Die Beschränkungen und Verflachungen, die diese schreckliche Idee der Ontologie - die Lehre vom wirklich Vorhandenen - mit sich bringt, werden aufgehoben. Es ergeben sich diese und jene Schritte, dann dreht man sich, und plötzlich sieht man etwas Neues, gänzlich Unerwartetes.«
Autonomie bringt so die *Freiheit, die *Welt neu *wahrzunehmen, sie verändert die *Weltanschauung und erzeugt dasselbe *Staunen, das den *Reisenden bewegt. Das Maß an gelebter Autonomie bestimmt, für welche Welt wir uns entscheiden: *real life oder virtual reality. Eine gelebte Autonomie setzt einen *autarken Handlungsraum voraus und begibt sich an die Grenze des asozialen Handelns.
Der Anspruch ist hoch, der Alltag sieht anders aus und wird bei vielen von der Bequemlichkeit bestimmt, von Zynismus und Selbstsucht. Dadurch lassen sich holzschnittartig drei Gruppen erkennen:
Wolfram Eilenberger
nennt sie »soziale Störenfriede«, deren Talente und Sehnsüchte sie weit aus ihrer Handlungsgemeinschaft herausragen lassen. Er beschreibt sie unter der Überschrift »Asozial, autonom, autark«, fokussiert dabei jedoch auf »Gründer« und »Elite«. 5)Helden motivieren sich von innen über Selbstachtung (intrinsich), Systembewahrer werden von außen motiviert über Anerkennung (extrinsisch), Influencer motivieren sich über Machtgefühle.
Selbstbestimmung findet ihren Sinn, weil sie sich auf eine Perspektive richtet, auf die Position in der *Welt.
Mit einer solchen Perspektive übernehmen wir Verantwortung für die Welt, da sie ein Teil von uns wird.
Hannah Arendt
führte diesen Gedanken zu Ende (Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960) und meinte: Arbeiten, Herstellen und Handeln sind Tätigkeiten, die dem Menschen eignen und ihn in der Welt einzigartig machen. Also kann der Mensch nur in Ausübung dieser Tätigkeiten gemeinsam mit anderen Menschen seinem Leben einen Sinn geben. Dieser Sinn kann jedoch nicht darin bestehen, in der Routine zwischen Arbeit und Konsum gefangen zu bleiben, in stetiger Bestätigung des Gewohnten und Erwartbaren. Solches Nichts-wissen-Wollen von der Welt wäre ziellos, planlos, perspektivlos. Damit gäbe der Mensch seine Zukunft auf.
»Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.«
Weder von Martin Luther
noch eine chinesische Weisheit, jedoch passend 6)
Marie-Luise Raters
J. Urmson
Saints and Heroes 1958Hans Jonas
Heinz von Foerster
. Autoris. dt. Fassung von Wolfram K. Köck
Reinhard Bingener
spricht mit dem Theologieprofessor Martin Schloemann
FAZ 15.04.2017