====== Welt ====== »Wir leben in der besten aller denkbaren möglichen Welten« Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal David Mortier, Amsterdam 1710 »Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein« Voltaire (1694-1778) Candide, Cramer, Genf 1759 Egozentrisch und klein gesehen ist »Welt« Alles, was Nicht-Ich ist, also »Außen« im Gegensatz zu Innen: //»Ich bin meine Welt«,// sagt ''Ludwig Wittgenstein''. //Zweitens// ist »Welt« das vorstellbare Außerhalb bis an seine nicht überschreitbaren [[wiki:grenze|Grenzen]], also je nach Umfang der Vorstellung: * Die alltägliche Welt, die wir mit anderen zusammen erleben und teilen. * Die [[wiki:Erde|Erde]] als [[wiki:Oikumene|Oikumene]] oder Himmelskörper * Das Universum als die Gesamtheit des Raumes * [[wiki:phantasieorte|Phantastische Orte]] jenseits überschreitbarer Grenzen //Drittens// schaffen wir uns eine »Welt« in der Vorstellung, die durch [[wiki:glaube|Glaube]] und [[wiki:phantasie|Phantasie]] geformt wird, eine [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]]. Damit ist ein gewisser Verlust an Sinn und Kommunikation unvermeidlich ((''Peter Handke''\\ //Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt//\\ Suhrkamp 1969)), aber die Sache funktioniert so lange, wie wir mit unserer Umwelt klarkommen; das //Stachelschweinprinzip// von ''Arthur Schopenhauer'' beschreibt das sehr anschaulich (([[http://www.zbk-online.de/texte/A0411.htm|Die Welt als Wille und Vorstellung]]. 1819)). Neben die [[wiki:wahrnehmung|Wirklichkeit]] tritt damit die [[wiki:moeglichkeitssinn|Möglichkeit]], verbunden durch die Notwendigkeit. Das »Kripke«-Modell der Modallogik beschäftigt sich mathematisch mit dem Verhältnis möglicher und wirklicher Welten, benannt nach ''Saul Aaron Kripke''. * ''James Cowand''\\ //Der Traum des Kartenmachers.//\\ Die Meditationen des Fra Mauro, Kartograph zu Venedig [ca 1385 - 1459]\\ Albrecht Knaus München 1997 //Viertens// werden Welten gegliedert: * nach oben und unten: alle Mythologien kennen eine Unterwelt * ringsherum: die [[wiki:reisegenerationen#Die griechisch-römische Antike|Antike]] ordnete die bewohnte Welt (oikumene) rund ums Mittelmeer (mare nostrum) ((''Karlhans Abel''\\ //Zone//\\ Das Problem der Biosphäre im geographischen Denken der Antike\\ Sonderdruck aus //Pauly's Realencylopädie der classischen Altertumswissenschaften// Supplementband XIV.\\ Alfred Druckenmüller München 1974)):\\ [[wiki:europa|Europa]] in Richtung Dunkelheit, Asia in Richtung Licht (»[[wiki:ex_oriente_lux|ex oriente lux]]«), Afrika in Richtung Hitze (»hic sunt leones«); begrenzt durch den [[wiki:Atlantik|Atlantik]] im Westen. Die Phönizier reisten bis an die Grenzen der damals bekannten Welt. [[wiki:Odysseus |Odysseus]] war der [[wiki:held|Held]] dieses Zeitalters. * in der Neuzeit hat die »Alte Welt« eine »Neue Welt« entdeckt; ''Columbus'' wurde als [[wiki:erforscher|Entdecker]] zum Paradigma. * Ökonomisch und politisch erscheint die [[wiki:Dritte Welt|Dritte Welt]], die natürlich eine erste Welt und Zweite Welt voraussetzt, welche als Begriff jedoch selten verwendet werden. * ''Holger Sonnabend''\\ //Die Grenzen der Welt//\\ Geographische Vorstellungen der Antike. Darmstadt 2007 * ''Stephen Greenblatt''\\ //Marvellous Possessions.// The Wonder of the New World. Chicago, 1991 (Oxford 1992); ddeutsch als: //Wunderbare Besitztümer.// Die Erfindung des [[wiki:fremdes|Fremden]]. [[wiki:reisende|Reisende]] und [[wiki:erforscher|Entdecker]]. 286 S., Wagenbach, Berlin 1994 * ''Tzvetan Todorov''\\ //Die [[wiki:entdeckungsgeschichte|Entdeckung]] Amerikas. Das Problem des Anderen.// (La Conquête de l'Amérique)\\ Frankfurt/M., 1985 //Fünftens// schließlich werden Welten konstruiert, mit Namen versehen und gezeichnet: es sind Weltkarten, die uns eine Vorstellung der Welt geben. Aber nicht alles, was die [[wiki:Kartographie |Kartographie]] auf Papier bannte, existierte tatsächlich. Die Vorstellungen in unserer Welt (→ [[wiki:imagination_und_anschauung|Imagination und Anschauung]]) verdichten sich so zu einem [[wiki:Das Bild Afrikas|Bild Afrikas]], einem Bild [[wiki:literaturliste_sibirien-reisen|Sibiriens]], einem Bild von Amerika, einem [[wiki:das_bild_des_orients|Bild des Orients]], einem Bild des Fernen Ostens usw. ((''Tobias Gohlis, Christoph Hennig, Jürgen Kagelmann, Dieter Kramer, Hasso Spode''\\ //Voyage//\\ Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung. Band 2: //Das Bild der Fremde//\\ Köln: Dumont 1998. 16,5x24 cm: 200 S. )). Das Bild der [[wiki:wahrnehmung|Wirklichkeit]] auf der Basis der von den Wissenschaften geschaffenen Ergebnisse ermöglicht eine [[wiki:kosmopolit|kosmopolitische]] Weltbewußtheit ((''Ernst Moser''\\ //Weltbewußtheit//\\ Aristarch Chur 1980 432 S.)). * //Focus Behaim Globus//\\ Teil 1: Aufsätze (462 S.), Teil 2: Katalog\\ Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 2. Dez. 1992 bis 28. Feb 1993, [[wiki:liste_ausstellungen|Ausstellung]] anlässlich der zur 500-Jährigen Wiederkehr der Entdeckung Amerikas. Kalogband zur Ausstellung in zwei Bänden. Inhalt u.a.: * Das moderne Weltbild * Die Vorstellungen von Kosmos und Sonnensystem * Die Vorstellungen von der Erde * Martin Behaim und sein Erdapfel * Die Reisemittel der Entdeckungsfahrten * Reisen, Sammeln, Entdecken //Sechstens// - als gäbe es nicht schon genug Welten, gibt es die Welten die unsere [[wiki:phantasieorte|Phantasie]] zu ihrem Vergnügen konstruiert. ==== Wirklichkeiten ==== Über das, was »wirklich« existiert, lässt sich streiten. Individuelle Wirklichkeiten des [[wiki:einzelne|Einzelnen]] werden allgemein akzeptiert, wenn sie die allgemein anerkannten Wirklichkeiten nicht stören. Ihren nützlichen Wert finden sie im Probehandeln des [[wiki:abenteuer|Abenteuers]] und im [[wiki:erforscher|Erforschen]] des Unbekannten. Im Unterschied zur anerkannten Wirklichkeit, dem [[wiki:wissen|Wissen]], ist ihre Grundlage der [[wiki:glaube|Glaube]] und der Wunsch nach [[wiki:illusionen|Illusionen]]. ==== Wissen und Glauben ==== »[[wiki:wissen|Wissen]]« ist objektiv sicher und wirklich - zumindest innerhalb definierter Grenzen. Wissen beruht auf Fakten, die immer wieder gleichermaßen reproduzierbar und überprüfbar sind, also auf äußerer Erfahrung und Erkennnnis der Wirklichkeit. Dem gegenüber beruht »Glauben« auf innerer Erfahrung und Einsicht und führt zu Überzeugungen. Idealerweise ergänzen sich beide. Als Einstein formulierte //»Gott würfelt nicht!«// widersprach seine innere Überzeugung dem, was er selber wissenschaftlich als wahr erkannt hatte. ==== Wahr ist, was nicht falsch ist ==== Eine absolute »Wahrheit« gibt es für Menschen nicht. Als »Wahr« wird anerkannt, was nützlich ist und sich einfügt. Nützlich ist alles, was hilft, in der Welt zu überleben. Auch im Bereich der Theorie gibt es also ein »survival of the fittest«. Deren Richtigkeit zu beweisen (Verifikation) ist unmöglich. Stattdessen versucht man zu beweisen, dass sie falsch ist (Falsifikation). Solange sie nicht falsch ist, gilt sie als richtig. Dass die Erde eine Scheibe ist, ist durchaus vorstellbar. Das wurde erst dann falsch, als man zu den [[wiki:grenze|Grenzen]] der Meere segelte, die [[wiki:weltreise|Welt umsegelte]]. ==== Wahrnehmung durch Sinneskanäle ==== Etwas für wahr //nehmen// impliziert, die Wahl zu haben, es annehmen oder auch ablehnen zu können: //»Das will ich nicht wahr haben«//. Wahrnehmung entsteht über Sinneseindrücke; sich mit anderen über diese zu unterhalten, setzt ein gemeinsames Verständnis jedoch voraus. Darin liegt die soziale Dimension von Wahrnehmung. Ein Gehörloser, der erstmals Worte hört, nimmt nur Laute wahr, keine Bedeutung. Wahrnehmung ist anthropozentrisch. ==== Die Weltkundigen und die Zurückgebliebenen ==== Und so haben [[wiki:weltreise|Weltreisende]], die »die Welt gesehen haben«, auch Unverständnis und Misstrauen zu überwinden. Ihre Wahrheit entsteht im Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit und kann durchaus im Gegensatz zur Wahrheit stehen kann, wie sie daheim gesehen wird. Bereits vor fast dreitausend Jahren ermahnt ''Homer'' den Reisenden nicht zu lügen: //»Aber verkündige mir und sage die lautere Wahrheit: Welche Länder bist du auf deinen Irren durchwandert? Und wie fandest du dort die Völker und die prächtigen Städte?«// ((''Homer'' 8. Jh. v. Chr., //Odyssee//, VIII, 572-574))\\ Dem hält ''Jacques Arago'' (1790 - 1854) entgegen: //»Um diese Wahrheit richtig zu begreifen, müßten Sie wie ich gereist sein. Sie sind zu Hause geblieben? Oh! dann glauben Sie mir aufs Wort. Sie sind nicht fähig, mich zu widerlegen. Was ich von Ihnen verlange? Daß Ihr lässiger Geist gewohnt ist zu gewähren. Haben Sie nicht jeden Kampf mit der Überlegung untersagt! Reisen ist Denken, und Sie verlassen Ihren Lehnstuhl nicht.«// ''Immanuel Kant'', der bekanntermaßen außer zu Spaziergängen nicht aus Königsberg heraus kam, sah das anders: //»eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann«// ((//Anthropologie in pragmatischer Hinsicht// S. 120)) ''Voltaire'' (1694-1778) teilte Homers Skepsis und sah den [[wiki:reisende|Reisenden]] zumindest taktisch im Vorteil: //»Wer von weither kommt, hat leicht lügen.«// Dass Reisende und [[wiki:balconing|Nicht-Reisende]] in zwei Welten leben, weiß aber schon das [[wiki:sprichwoerter|Sprichwort]]: //»Das ist nicht wahr, sagte der Krebs, als die Schwalbe von ihrer Reise erzählte.«// (( ''Karl Friedrich Wilhelm Wander''\\ //Deutsches Sprichwörterlexikon//\\ Brockhaus, Leipzig 1867–1880\\ IV S. 1744)) Unter Ethnologen ist der //»writing-culture« Effekt// bekannt: Es ist unmöglich, die bei der »teilnehmenden Beobachtung« erlebte Wahrheit schriftstellerisch unverändert wiederzugeben; [[wiki:fremdes|Fremdes]] wird konstruiert, denn Texte sind immer auch fiktiv. * ''Peter Braun'', ''Manfred Weinberg'' (Hrsg.)\\ //Ethno/Graphie. Reiseformen des Wissens.//\\ Literatur und Anthropologie 17, Gunter Narr Tübingen 2002 420 S. Dagegen hoffft ''Samuel Johnson'' (1709 - 1784): //»Der Sinn des Reisens besteht darin, unsere Phantasien durch die Wirklichkeit zu korrigieren. Statt uns die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte, sehen wir sie wie sie ist.«// Schwierig, denn Reisende werden ja von ihrer Phantasie erst in die Welt getrieben. ''Johann Wolfgang Goethe'' (1749 - 1832) verlangt zudem Bildung als Voraussetzung für ein [[wiki:aufklaerung|aufgeklärtes]] Reisen, denn //»Man sieht nur, was man weiß.«// Allerdings lässt sich das auch umgekehrt deuten: Wird Neues so ausgeblendet? Darauf bezieht sich ''Marcel Proust'' (1871-1922), wenn er meint: //»Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.«((La Prisonnière, Marcel Proust, Gallimard, 1925, S. 69 : Le seul véritable voyage, le seul bain de Jouvence, ce ne serait pas d’aller vers de nouveaux paysages, mais d’avoir d’autres yeux, de voir l’univers avec les yeux d’un autre, de cent autres, de voir les cent univers que chacun d’eux voit, que chacun d’eux est.))// Und ist neues Wissen immer auch wertvoll? ''Henry de Montherlant'' (1896-1972) zweifelt daran: //»Man glaubt zu gewinnen, weil man an Breite gewinnt, und man verliert es an Tiefe. Man kehrt zurück, aufgeblasen von einem elenden Halbwissen, das schlimmer ist als Unwissenheit, da es Nichtvorhandenes vortäuscht.«// Einen weiteren Nachteil sieht ''Max Dauthendey'' (1867-1918) im »Gefängnis der Wirklichkeit«, denn //»Sobald du dich in späteren Tagen an den bereisten Ort im Geist zurückversetzt, kommst du nicht über die Grenzen der ehemaligen wirklichen Tage hinaus. Du siehst jenen Ort immer wieder ... Du bist verdammt, ihn ewig genauso zu sehen, wie er sich dir auf der Reise gezeigt hat. Dies ist der Fluch, der die Seele des Reisenden belastet. Die Flügel der Geistigkeit werden ihm von der Wirklichkeit beschnitten.«// ((//Himalajafinsternis//. Novelle, erschienen in: Geschichten aus den vier Winden, Albert Langen München 1915 S. 41–76)) ---- Martina Backes (Hg.) Fenster zur Parallelwelt. Reisebilder und Fernwehgeschichten Informationszentrum Dritte Welt Freiburg/Breisgau 2006 Broschur 16,5x23,5 cm: 224 Seiten, zahlreiche Textabbildungen, teils farbig. Was dem Titel nach ein Science Fiction sein könnte, entpuppt sich als Sammlung von Reiseerlebnissen meist bekannter Autoren, von ''Mary Kingsley'' bis ''Jon Krakauer''. Ausgewählt und zusammengestellt wurden die Texte in sieben Kapiteln:// Vor der Reise; Being there; Exotik extrem; How much? Entdecken-Erobern-Erholen; Migration & Tourismus; Nach der Reise.// Entsprechend finden sich also auch reflexive Texte, etwa von ''Alain de Botton'' über Erwartungen. Insbesondere zwischen den Beiträgen erwarten den Leser die Bilder der Wander[[wiki:liste_ausstellungen|ausstellung]] //»Beyond paradise. Stationen des touristischen Blicks«.// Der in der Gliederung kaum erkennbare Ansatz wird durch die bildhaften »Blickfänger« viel leichter verständlich, denn sie zeigen deutlich, in welchen Situationen sich Touristen und Einheimische begegnen, etwa als Konsumenten und Produzenten. Der einseitige tourismuskritische Ansatz wird durch Texte und Bilder relativiert. Reisende und Bereiste, Touristen und Dienstleister, touristische Quell- und Zielländer – solche Zuordnungen sind weder so einseitig noch so dauerhaft, wie dies tourismuskritische Modelle früher darstellten. //»Fenster zur Parallelwelt möchte durch die Konfrontation mit anderen, ungewohnten Perspektiven neue Einblicke und Ausblicke auf die komplizierten Beziehungen … ermöglichen … oder als Spiegelungen einen Blick zurück auf die eigene Bilderwelt über die Fremde werfen.«// Unbestritten ist ja, daß die einen (Touristen) in eine Urlaubswelt flüchten, von der sie ein völlig falsches Bild haben und dafür bezahlen, dass dieses falsche Bild während des Urlaubs heil bleibt. Ebenso unbestritten ist, daß die anderen (Migranten) in eine Wirtschaftswelt flüchten, von der sie ein ebenso falsches Bild haben, dass sie sich ebenfalls nicht kaputt machen lassen. Beide suchen in der Fremde etwas, das sie in der Heimat nicht haben. Manche vollbringen das Kunststück, in beiden Welten zu leben. Schlaglichtartige Einsichten in diese Verhältnisse zeigt das Buch. Angenehm ist das lockere Layout trotz des ernsten Themas. Weniger locker ist der sprachliche Ausdruck einer vermutlich ideologischen Haltung, der sich in den Wortschöpfungen// »ReisendeR, TouristInnen und DienstleisterInnen«// wiederholt zeigt. ---- Alexander von Humboldt Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung 5 Bde., Stuttgart 1845-1851 Wolfgang Zank Von Globus an sich zum Globus für sich Geschichte der Globalisierung In: Pinkert, Ernst-Ulrich (Hg.): Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur München: Text und Kontext 2000. S. 15-26 Ian Morris Beute, Ernte, Öl Wie Energiequellen Gesellschaften formen Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020, 432 S.