====== Wirklichkeit, Wahrnehmung, Wahrheit ====== Die Tätigkeit vor dem Bildschirm erschafft digitale Welten, während der Blick aus dem Fenster auf die zerfallende Wirklichkeit fällt. Wirklichkeiten lassen sich konstruieren. Wie wirklich ist die Wirklichkeit, fragte ''Paul Watzlawick'' (( Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Wahn, Täuschung, Verstehen.\\ Piper, München 1976\\ Die erfundene Wirklichkeit – Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? \\ Piper, München 1981\\ Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du gern Knoblauch essen – Über das Glück und die Konstruktion der Wirklichkeit. \\ Piper, München 2006\\ )). Wahrnehmungen haben dagegen eine andere, eine anthropozentrische Dimension. Etwas für wahr nehmen impliziert, die Wahl zu haben, es annehmen oder auch ablehnen zu können - Das will ich nicht wahr haben - aber auch, sich *[[wiki:illusionen|Illusionen]] machen dürfen. Wahrnehmung entsteht über Sinneseindrücke. In einer Welt der Blinden oder der Gehörlosen wird die Welt anders wahrgenommen, die Eindrücke eines ganzen Sinnes fehlen. Wo es keine Sinneseindrücke über die Augen gibt, werden auch keine Begriffe dafür belegt. Ein Blinder kann Farben als abstrakte Konstruktion verstehen, aber ihm fehlt die Vorstellung. Eine Verständigung über Sinneseindrücke setzt ein gemeinsames Verständnis jedoch voraus. Darin liegt die soziale Dimension von Wahrnehmung. Wahr ist auch nur das, was allgemein als wahr anerkannt wird. Im allgemeinen wird als wahr anerkannt, was nützlich ist. Nützlich ist, was hilft, in der [[wiki:welt|Welt]] zu überleben. Davon abweichende individuelle Wirklichkeiten werden allgemein akzeptiert, wenn sie die allgemein anerkannten Wirklichkeiten nicht stören. Ihren nützlichen Wert erweisen sie als Probehandeln, also als Experiment oder [[wiki:abenteuer|Abenteuer]]. Im Unterschied zur anerkannten Wirklichkeit ([[wiki:wissen|Wissen]]) ist ihre Grundlage der [[wiki:glaube|Glaube]]. Im Alltag nützlich ist eine »Standardeinstellung« der Wahrnehmung, weil Denkfaulheit das Leben in vorgezeichneten Bahnen vereinfacht. ''David Foster Wallace'' hat in einer berühmten Rede dargelegt ((Das hier ist Wasser / This is Water\\ Eine Anstiftung zum Denken\\ Köln KiWi-Taschenbuch 2012 64 S)), wie Menschen ihre Standardeinstellung durchbrechen können, indem sie nämlich: - ihre Wahrnehmung verändern, weil das gewohnte Sehen blind macht für das Offensichtliche (»Kenne ich«) - ihe Überzeugungen lockern, weil sich darin die Arroganz manifestiert (»Weiß ich«) Die wahre [[wiki:freiheit|Freiheit]] verlange nach Aufmerksamkeit, Offenheit, Disziplin, Mühe und Empathie - also nach einem bewussten Lebens, wie es der Buddhismus lehrt. Nichts ist, wie es scheint, denn die Wirklichkeit lässt sich häuten wie eine Zwiebel, die Innenwelt wird zur Außenwelt - oder umgekehrt? Die Standardeinstellung führt zu einer vernagelten Sichtweise, zu bornierten Einstellungen - sie kennt nichts Neues, Verborgenes und erlaubt kein Staunen. Muster sind vertraut, sie zu verändern erzeugt Angst. Neues ergibt nur Sinn, wenn es in vorhandene Muster passt. Was nicht passt, wird passend gemacht und zack - ist man bei der selektiven Wahrnehmung und blendet Abweichendes aus, will man gar nicht sehen. Nun kann man aber auch mit Lust an der Veränderung die Wahrnehmungen stören, etwa durch Perspektivwechsel. Perspektiven ändern sich beim Gehen von selbst. »Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ging« meinte Johann Gottfried Seume, 1802 zu Fuss unterwegs nach Syrakus. Und auch Michel de Montaigne bekannte: »Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.« Friedrich Nietzsche ging so weit, »keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung« Wer im Trott ist, ist immerhin unterwegs, doch kann auch mit geschlossenen Augen durchs Leben laufen und dann hilft es nicht, wenn sich außen die Perspektiven verschieben. *[[wiki:autonomie|Autonomie]] verlangt nach Aufklärung: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. >Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!< ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift 1784, 2, S. 481–494 Auch Kant fand seine Einsichten im Gehen. Und weil er täglich seinen Spaziergang um Königsberg machte und dabei allerhand Menschen aus aller Welt begegnete, befand er es als unnötig die Welt zu [[wiki:reisen|bereisen]]: ((''Immanuel Kant'': //Anthropologie in pragmatischer Hinsicht//. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7541 S. 120-121)) »Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.« ==== Literatur ==== * ''Jenna Odell''\\ //Nichts tun: Oder die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen//\\ C.H. Beck München 2021 * ''Ludger Jansen''\\ //Dispositionen und ihre Realität//\\ in: Christoph Halbig, Christian Suhm (eds.),\\ Was ist wirklich? Realismusdebatten in der neueren Philosophie,\\ Ontos-Verlag: Frankfurt 2004 * ''Klara Löffler''\\ //Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird.//\\ Beobachtungen zu einer Form zeitgenössischer Schaulust.\\ In: Christoph Köck (Hg.): Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung aus volkskundlicher Sicht. München 2001 (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 29), S. 229-239. * ''Sarnowsky, Jürgen'' u.a. [Hg.]\\ //Wahrnehmung und Realität//.\\ Vorstellungswelten des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 12. Jahrhundert|12.]] bis [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 17. Jahrhundert|17. Jahrhunderts]].\\ 401 Seiten, Göttingen V&R 2019\\ Die Autoren untersuchen Chroniken, wissenschaftliche Literatur, Reiseberichte und weitere Texte. * ''Franz Billmayer''\\ //Tunnelblick und Gipfelglück//\\ Vortrag am 19. Januar 2005 an der Universität Mozarteum Salzburg, BDK-Mitteilungen 4/2005, S.10-14\\ Reduktion und Steigerung von Wahrnehmungskomlexität am Beispiel des touristischen Blicks: Das Normale ist unsichtbar (Tunnelblick).