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wiki:flaneur

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wiki:flaneur [2021/09/07 11:48] norbertwiki:flaneur [2021/11/20 08:04] norbert
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 ====== Flâneur ====== ====== Flâneur ======
-Der [[wiki:stereotyp|Stereotyp]] des Flaneurs (im Larousse findet sich auch die //Flaneuse//) entstand im 19. Jahrhundert in den [[wiki:strasse|Straßen]] von Paris und blieb im Wesentlichen eine städtische Erscheinung (»a strolling urban observer«), die zu den Nicht-Reise-Formen des ([[wiki:balconing|balconing]]) passt. Wenn heute von »globalen« Flaneuren geredet wird, so liegt dem jedoch ein Missverständnis über das Wesen des Flaneurs zugrunde. 1834 erschien in Paris die Zeitung //Le Flâneur// als »cicérone des étrangers à Paris: journal non politique ...« Literarisch beschreibt ''Edgar Allan Poe'' 1840 die Figur des Flaneurs in seiner Erzählung »Der Mann in der Menge«;  ''Charles Baudelaire'' (Die Blumen des Bösen) war davon begeistert. Zu seiner Zeit besaß Paris bereits 20 überdachte Passagen, die ideale Umgebung für das Bad in der Menge und den Blick des Flaneurs auf die Anderen. ''Walter Benjamin'' machte daraus eine literarische Form und schrieb flanierend Notizen, die er in seinem //Passagen-Werk// 1927 bis 1940 verarbeitete. Die Lebensweise des Flaneurs zeigte auch der Film von ''François Truffaut'' (1932 – 1984): //Sie küßten und sie schlugen ihn// (Les quatre cents coups), 1959 mit ''Jean-Pierre Léaud''.  +Der [[wiki:stereotyp|Stereotyp]] des Flaneurs (im Larousse findet sich auch die //Flaneuse//) entstand im [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] in den [[wiki:strasse|Straßen]] von Paris und blieb im Wesentlichen eine städtische Erscheinung (»a strolling urban observer«), die zu den Nicht-Reise-Formen des ([[wiki:balconing|balconing]]) passt. Wenn heute von »globalen« Flaneuren geredet wird, so liegt dem jedoch ein Missverständnis über das Wesen des Flaneurs zugrunde. 1834 erschien in Paris die Zeitung //Le Flâneur// als »cicérone des étrangers à Paris: journal non politique ...« Literarisch beschreibt ''Edgar Allan Poe'' 1840 die Figur des Flaneurs in seiner Erzählung »Der Mann in der Menge«;  ''Charles Baudelaire'' (Die Blumen des Bösen) war davon begeistert. Zu seiner Zeit besaß Paris bereits 20 überdachte Passagen, die ideale Umgebung für das Bad in der Menge und den Blick des Flaneurs auf die Anderen. ''Walter Benjamin'' machte daraus eine literarische Form und schrieb flanierend Notizen, die er in seinem //Passagen-Werk// 1927 bis 1940 verarbeitete. Die Lebensweise des Flaneurs zeigte auch der Film von ''François Truffaut'' (1932 – 1984): //Sie küßten und sie schlugen ihn// (Les quatre cents coups), 1959 mit ''Jean-Pierre Léaud''.  
  
 Nichts ist, was es scheint. Das Dahinter zu sehen, bedarf der Wahrnehmungskraft, der [[wiki:phantasie|Phantasie]] und der Kraft des eigenen Denkens. Das Flanieren ist eine Form der kultivierten Langeweile; der Flaneur spielt mit der [[wiki:welt|Welt]], sein Blick läßt sich von Oberflächlichkeiten leiten und folgt hier und da assoziativen Gedankengängen in die Tiefe, doch ohne analytischen Anspruch, eben »bei-//läufig//«. Spezifisch für den Flaneur ist seine Methode, durch zielloses und gemächliches Umherschweifen das Vertraute //en passant// zu verfremden. Diese Methode funktioniert nur, wenn der Flaneur in seiner eigenen [[wiki:welt|Welt]] unterwegs ist, denn als [[wiki:der_fremde|Fremder]] in der Fremde ist alles [[wiki:fremdes|fremd]]. Nichts ist, was es scheint. Das Dahinter zu sehen, bedarf der Wahrnehmungskraft, der [[wiki:phantasie|Phantasie]] und der Kraft des eigenen Denkens. Das Flanieren ist eine Form der kultivierten Langeweile; der Flaneur spielt mit der [[wiki:welt|Welt]], sein Blick läßt sich von Oberflächlichkeiten leiten und folgt hier und da assoziativen Gedankengängen in die Tiefe, doch ohne analytischen Anspruch, eben »bei-//läufig//«. Spezifisch für den Flaneur ist seine Methode, durch zielloses und gemächliches Umherschweifen das Vertraute //en passant// zu verfremden. Diese Methode funktioniert nur, wenn der Flaneur in seiner eigenen [[wiki:welt|Welt]] unterwegs ist, denn als [[wiki:der_fremde|Fremder]] in der Fremde ist alles [[wiki:fremdes|fremd]].
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 Das Flanieren ähnelt dem Gang des [[wiki:passagier|Passanten]] und dem [[wiki:spaziergang|Spazierengehen]], dem [[wiki:wandern|Wandern]] jedoch schon nicht mehr und es ist dem Reisen des [[wiki:abenteuer|Abenteurers]] diametral entgegengesetzt. Die Suche nach dem Unbekannten und [[wiki:neugier|Neuen]] in der Ferne, nach neuen äußeren Reizen hilft dem Abenteurer, seine Fähigkeiten im Umgang mit [[wiki:gefahr|Gefahren]] zu erproben. Der geübte [[wiki:globetrotter|Globetrotter]] könnte es genießen, mit verbundenen Augen in ein Flugzeug gesetzt zu werden, dessen Ziel er nicht kennt, doch in der Gewißheit, sich an jedem Zielort zu behaupten. Der Flaneur jedoch sucht nach neuen Reizen im Vertrauten, er erweitert dabei seine Innenwelt, seine Fähigkeiten im Umgang mit sich selbst. [[wiki:wildnis|Wildnis]] und unberührte Natur sind nicht seine [[wiki:welt|Welt]], denn er sieht sich als »empfindsamen Reisenden«, der durch zuviel [[wiki:neugier|Neues]] eher verletzt wird. Das Flanieren ähnelt dem Gang des [[wiki:passagier|Passanten]] und dem [[wiki:spaziergang|Spazierengehen]], dem [[wiki:wandern|Wandern]] jedoch schon nicht mehr und es ist dem Reisen des [[wiki:abenteuer|Abenteurers]] diametral entgegengesetzt. Die Suche nach dem Unbekannten und [[wiki:neugier|Neuen]] in der Ferne, nach neuen äußeren Reizen hilft dem Abenteurer, seine Fähigkeiten im Umgang mit [[wiki:gefahr|Gefahren]] zu erproben. Der geübte [[wiki:globetrotter|Globetrotter]] könnte es genießen, mit verbundenen Augen in ein Flugzeug gesetzt zu werden, dessen Ziel er nicht kennt, doch in der Gewißheit, sich an jedem Zielort zu behaupten. Der Flaneur jedoch sucht nach neuen Reizen im Vertrauten, er erweitert dabei seine Innenwelt, seine Fähigkeiten im Umgang mit sich selbst. [[wiki:wildnis|Wildnis]] und unberührte Natur sind nicht seine [[wiki:welt|Welt]], denn er sieht sich als »empfindsamen Reisenden«, der durch zuviel [[wiki:neugier|Neues]] eher verletzt wird.
  
-Der Flaneur im heutigen Sinne ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, doch der Begriff ist älter und meint abwertend eine unnütze Zeitverschwendung. Ihm zugrunde liegt das französische //flâner// zugrunde, das auf normannisches //flanner// rückgeht und möglicherweise aus dem norwegischen  //flana// ‘gefallsüchtig sein’ und schwedisches //flana// ‘müßig, leichtsinnig sein, spielen, tollen’ entstanden ist ((Wolfgang Pfeifer Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, https://www.dwds.de/wb/flanieren)).+Der Flaneur im heutigen Sinne ist ein Kind des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]], doch der Begriff ist älter und meint abwertend eine unnütze Zeitverschwendung. Ihm zugrunde liegt das französische //flâner// zugrunde, das auf normannisches //flanner// rückgeht und möglicherweise aus dem norwegischen  //flana// ‘gefallsüchtig sein’ und schwedisches //flana// ‘müßig, leichtsinnig sein, spielen, tollen’ entstanden ist ((Wolfgang Pfeifer Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, https://www.dwds.de/wb/flanieren)).
  
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   Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler (Ord i orientekspressen. Kopenhagen 2007)   Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler (Ord i orientekspressen. Kopenhagen 2007)
   Hoffmann und Campe Hamburg 2008, 222 Seiten   Hoffmann und Campe Hamburg 2008, 222 Seiten
-Der Titel erinnert in der Länge an Buchtitel des 17. Jahrhunderts, als es noch keine Eisenbahnen gab und jeder langsam reisen mußte, meist zu [[wiki:fussreisen|Fuß]].\\ +Der Titel erinnert in der Länge an Buchtitel des [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 17. Jahrhundert|17. Jahrhunderts]], als es noch keine Eisenbahnen gab und jeder langsam reisen mußte, meist zu [[wiki:fussreisen|Fuß]].\\ 
 Jensen dagegen reist 2005/06 acht Monate professionell auf allen [[wiki:kontintente|Kontinenten]] und berichtet über seine zwölf (meist exklusiven) Zugreisen für das dänische Magazin //Ud & Se//. Ganz so langsam ist das also nicht, dafür übernahm die dänische Eisenbahngesellschaft DSB die Kosten für das [[wiki:reisen|Reisen]] im //Blue Train//, dem //Glacier Express// oder dem //Ghan//. Die DSB plante und organisierte die Fahrten auch, so daß sich der Autor aufs Schreiben konzentrieren konnte.\\  Jensen dagegen reist 2005/06 acht Monate professionell auf allen [[wiki:kontintente|Kontinenten]] und berichtet über seine zwölf (meist exklusiven) Zugreisen für das dänische Magazin //Ud & Se//. Ganz so langsam ist das also nicht, dafür übernahm die dänische Eisenbahngesellschaft DSB die Kosten für das [[wiki:reisen|Reisen]] im //Blue Train//, dem //Glacier Express// oder dem //Ghan//. Die DSB plante und organisierte die Fahrten auch, so daß sich der Autor aufs Schreiben konzentrieren konnte.\\ 
 Schreiben kann er tatsächlich gut und sympathisch erscheint auch, daß er seine Notizen sämtlich handschriftlich in einem dicken, eigens für diese Reise in Leder gebundenen Tagebuch, niederlegt. Und so läßt er sich im zweiten Kapitel kunstvoll über langsames Reisen aus, etwa über die einstündige Zugfahrt durch die Slums von Bombay.\\  Schreiben kann er tatsächlich gut und sympathisch erscheint auch, daß er seine Notizen sämtlich handschriftlich in einem dicken, eigens für diese Reise in Leder gebundenen Tagebuch, niederlegt. Und so läßt er sich im zweiten Kapitel kunstvoll über langsames Reisen aus, etwa über die einstündige Zugfahrt durch die Slums von Bombay.\\ 
-Einen ganz besonderen Sinn hat Jensen für Details: Er nimmt ungewöhnlich viel wahr und schreibt ungewöhnlich viel auf. Der Blick aus dem Waggonfenster oder kleine Ereignisse zwischen den Mitfahrenden im Abteil werden sehr dicht geschildert; das Wahrnehmen und Notieren muß dabei ein anstrengender, ineinander überfließender Vorgang gewesen sein; es erfordert gleichzeitig Nähe und Distanz und die Trennung von Hand und Kopf; es erfordert die Eigenschaften eines Flaneurs, eines Typus, der seit dem 19. Jahrhundert ausgestorben zu sein scheint.\\ +Einen ganz besonderen Sinn hat Jensen für Details: Er nimmt ungewöhnlich viel wahr und schreibt ungewöhnlich viel auf. Der Blick aus dem Waggonfenster oder kleine Ereignisse zwischen den Mitfahrenden im Abteil werden sehr dicht geschildert; das Wahrnehmen und Notieren muß dabei ein anstrengender, ineinander überfließender Vorgang gewesen sein; es erfordert gleichzeitig Nähe und Distanz und die Trennung von Hand und Kopf; es erfordert die Eigenschaften eines Flaneurs, eines Typus, der seit dem [[wiki:reisegenerationen#Ab dem 19. Jahrhundert|19. Jahrhundert]] ausgestorben zu sein scheint.\\ 
 Später ist ein zweiter Schritt notwendig, denn aus dem notierten Material muß ein Essay entstehen. Aus Notizen werden im besten Fall kleine Geschichten, und wo das nicht möglich ist überbrücken biographisch motivierte Assoziationen (Als Kind hatte ich eine ähnliche …) Unüberbrückbares.\\  Später ist ein zweiter Schritt notwendig, denn aus dem notierten Material muß ein Essay entstehen. Aus Notizen werden im besten Fall kleine Geschichten, und wo das nicht möglich ist überbrücken biographisch motivierte Assoziationen (Als Kind hatte ich eine ähnliche …) Unüberbrückbares.\\ 
 Eines ist das Buch jedenfalls nicht: ein typischer [[wiki:reisebuch|Reisebericht]]. Und das ist gut so, denn der Autor hat ja die wesentlichen Hürden einer richtigen Reise nicht selbst genommen: ein Sponsor zahlt, die Vorbereitung ist delegiert, die investierte [[wiki:zeit_musse|Zeit]] ist eigentlich Arbeitszeit. Die gewählte Reiseform minimiert zudem weiteren Aufwand: Übernachtung, Essen und Trinken, Aufenthalte … sind fest programmiert auf hohem Niveau. Dem entsprechend fallen die Kapitel stark ab, in denen sich Jensen mit reisepraktischen Aspekten beschäftigt (»Denk an die Zahnbürste«).\\  Eines ist das Buch jedenfalls nicht: ein typischer [[wiki:reisebuch|Reisebericht]]. Und das ist gut so, denn der Autor hat ja die wesentlichen Hürden einer richtigen Reise nicht selbst genommen: ein Sponsor zahlt, die Vorbereitung ist delegiert, die investierte [[wiki:zeit_musse|Zeit]] ist eigentlich Arbeitszeit. Die gewählte Reiseform minimiert zudem weiteren Aufwand: Übernachtung, Essen und Trinken, Aufenthalte … sind fest programmiert auf hohem Niveau. Dem entsprechend fallen die Kapitel stark ab, in denen sich Jensen mit reisepraktischen Aspekten beschäftigt (»Denk an die Zahnbürste«).\\ 
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 ==== Literatur ==== ==== Literatur ====
   * ''Elkin, Lauren''\\ //Flâneuse//\\ Frauen erobern die Stadt - in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London.\\ Aus dem Englischen von Cornelia Röser. 392  S., München btb 2020   * ''Elkin, Lauren''\\ //Flâneuse//\\ Frauen erobern die Stadt - in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London.\\ Aus dem Englischen von Cornelia Röser. 392  S., München btb 2020
 +  * ''Klara Löffler''\\ //Nichts tun.//\\ Vom Flanieren, Pausieren, Blaumachen und Müßiggehen.\\ In: Neues Museum Nr 1 (2000), S. 23-25.\\ ebenso: Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde vom 9. Juni bis 5. November 2000. Gem. mit Gertraud Liesenfeld, Christian Rapp u. Michael Weese. Wien 2000.
   * ''Ulf Peter Hallberg''\\ //Der Blick des Flaneurs//\\ G. Kiepenheuer Leipzig 1995   * ''Ulf Peter Hallberg''\\ //Der Blick des Flaneurs//\\ G. Kiepenheuer Leipzig 1995
   * ''Huart, Louis, Alophe, Honoré Daumier, Théodore Maurisset''\\ //Physiologie du flaneur//.\\ 126 S. Paris 1841: Aubert [http://books.google.com/books?id=dJ9TAAAAcAAJ|[Online]] und [[ https://www.jstor.org/stable/community.18610718 |Abbildung]]   * ''Huart, Louis, Alophe, Honoré Daumier, Théodore Maurisset''\\ //Physiologie du flaneur//.\\ 126 S. Paris 1841: Aubert [http://books.google.com/books?id=dJ9TAAAAcAAJ|[Online]] und [[ https://www.jstor.org/stable/community.18610718 |Abbildung]]
wiki/flaneur.txt · Zuletzt geändert: 2024/04/30 06:09 von norbert

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